Ein Interview über Spielsucht, Games und vieles mehr - Gamedesign Professor beantwortet Ihre dringlichsten Fragen rund ums Thema

Prof. Dr. Michael Bhatty. | Foto: Miriam Meerfeld
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Vor längerer Zeit hatten wir Sie nach Ihren Fragen rund um das Thema Videospiele und Spielsucht gefragt. Diese haben wir gesammelt und von jemandem beantworten lassen, der sich mit der Materie auskennt. Prof. Dr. Michael Bhatty lehrt Game Design mit den Schwerpunkten Game Directing, Concept Art und Interactive Story Telling an der Mediadesign Hochschule Düsseldorf. Seine Doktorwürde erhielt er 1999 für seine Dissertaion „Interaktives Story Telling“. Er arbeitete als Lead Game Designer (z.B. SACRED), Chief Executive Producer (z.B. Mohrhuhn Piraten), Game-Design-Consultant (z.B. für Braingame, Travian) und Romanautor (FarCry, Runes of Magic und jüngst an der Kyle-Saga). Im Folgenden Interview finden Sie die Antworten des Experten:

1. Was halten Sie davon, wenn Kinder Videospiele spielen, die nicht für ihr Alter konzipiert sind?

Gar nichts! Hier sind die Eltern - nicht die Schulen oder die Entwickler - in der Pflicht, sich mit ihren Kindern auseinanderzusetzen und sich dafür zu interessieren, was sie tun. Videogames werden leider immer noch als „Spiele für Kinder“ angesehen, statt als eigenständige Medienform wahrgenommen zu werden. Die meisten Nicht-Spieler haben leider durch die (anderen) Medien gepflegte Klischees im Kopf, die eher ins Jahr 1985 zu Jump-&-Spielen wie Super Mario Bros. passen. Thematisiert man den fragwürdigen Einkauf eines Shooters für ein offensichtlich junges Kind, dann hört man immer noch „Ach, es ist doch nur ein Spiel!“ Ein Shooter ist aber ein Spiel für Erwachsene.
Stellen Sie sich die Frage, ob Sie Ihr Kind einen blutigen Kriegsfilm gucken lassen würden! Nein, das würden Sie nicht! Warum, weil es ein 18+-Inhalt für Erwachsene ist. Genausowenig würden Sie ein kleines Kind einen Pornofilm sehen lassen - aus den gleichen Gründen. Darum gibt es die Altershinweise auf Filmen und Games.

2. Gibt es in Zeiten von Amazon, Online-Stores und Co. überhaupt noch einen Weg das zu verhindern? (Wo die Kinder doch überall an die Spiele kommen)

Kinder kommen nur an einzukaufende Inhalte, wenn die Eltern ihre Einkäufe nicht kontrollieren. Betrachtet man die Statistiken, dann fällt auf, dass viele Kinder und Jugendliche viel zu hohe Taschengeldbeträge erhalten, und damit natürlich sehr frei und unkontrolliert einkaufen können. Hier gibt es z.B. Empfehlungen des Deutschen Jugendinstituts (DJI), wie hoch angemessene Beträge sind. Wir müssen uns fragen, ob Kinder Zugriff auf Kreditkarten der Eltern haben sollten - oder ob dies schon eine Verletzung der Aufsichtspflicht ist?
Aber es kommt wieder zum Interesse an dem, was die Kinder tun. Werden Videogames dazu missbraucht, um Kinder ruhig zu stellen, dann geht die Entwicklung in die falsche Richtung. Und Eltern und Großeltern müssen verstehen, dass Games die führende Medienform im 21. Jahrhunderts sind - und eben keine „Spielzeuge“.

3. Was können (gerade jüngere Spieler) aus Spielen wie Fortnite mitnehmen? Gibt es positive Dinge, die zum Beispiel im echten Leben Anwendung finden?

Bei Fortnite sprechen wir von Jugendlichen, nicht von Kindern. Das Spiel ist frei ab 16 Jahren. Alle Games bilden Systeme ab, egal wie groß oder wie klein sie sind. Bei Fortnite managen Sie Ressourcen, müssen sich ggf. mit anderen Teammitgliedern zusammenschließen und Ihre sozialen Fertigkeiten schulen.
Markman hat 2016 in Psychology Today die Ergebnisse einer besseren Hand-Auge-Koordination belegen können, d.h. verbesserte Reaktionszeiten, Transferdenken vom Realraum in den virtuellen Raum, die Koordinierung von Raum-Zeit-Parametern (Autos im Straßenverkehr) und das Verständnis von Mustern.

4. Denken Sie, dass Menschen, die häufig „zocken“, negativ durch die Videospiele beeinflusst werden?

Lassen Sie mich die Frage umdrehen. Es gibt längst Belege, dass Menschen „positiv“ durch Games beeinflusst werden. Viele Gamer sind sehr sozial eingestellt: Dies zeigen z.B. immer wieder Spendenstreams für gemeinnützige Zwecke. Erst im August traten und treten eine Reihe an Streamern über Twitch an, um für Gaming-Aid e.V., den Charity-Verband der deutschen Gamesbranche, „spielend“ zu sammeln, die damit wieder Jugendeinrichtungen oder auch den Verein im Kampf gegen den Krebs unterstützen. Auch wurde gerade durch Gaming-Aid e.V. ein Stipendienprogramm als Bestenförderung gestartet. Dies sind alles positive Einflüsse durch Games.
2007 haben Rossner et al. herausgefunden, dass Chirurgen, die Games für drei Stunden pro Woche spielen 37% weniger Fehler machen und gleichzeitig um 27% schneller sind.

Sie analysieren mit jedem Spiel System! Ganz gleich, ob es Bejeweled ist, bei dem Sie versuchen, mehrere Kristalle zu finden, die die gleiche Farbe und Form haben, d.h. Sie schulen Ihre Wahrnehmung. In StarCraft lernen Sie Ressourcen zu managen und Raum und Zeit in Ihre Planungen einzubeziehen. In ShadowTactics analysieren Sie Bewegungsmuster über die Zeit im Raum. In Alien Isolation lernen Sie, dass Sie sich nicht von Ihrer Furcht lähmen lassen dürfen, sondern handeln müssen!
Und Tomb-Raider-Spieler können selbstverständlich Karten lesen und sich im Raum orientieren - ohne Navi.
Und es gibt weitere Beispiele, z.B. aus der Schmerztherapie oder jüngst das Demenzprojekt der Weltenweber in Kooperation mit den Helius-Kliniken. In dem Projekt, übrigens auch u.a. gefördert durch GamingAid e.V., werden Demenzkranke, bei denen die Langzeiterinnerung noch funktioniert, ins Krefeld der 50er Jahre versetzt - mit positiven Ergebnissen für die Patienten.
Die Liste ist lang: Eine erhöhte Hand-Auge-Koordination, bewegte Objekte im Raum (hilfreich im Straßenverkehr), ein Verständnis für technologische oder soziale Funktionsweisen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Dies sind alles Fertigkeiten, die wir im realen Leben brauchen, sei es im Straßenverkehr, in der sozialen Interaktion untereinander oder schlicht und ergreifend beim Einkauf.
Videogamer sind analytischer und potenziell proaktiver!

5. Videospielsucht ist ja immer ein großes Thema: Sehen Sie an dieser Stelle vielleicht auch die Entwickler in der Pflicht? Sollten diese vielleicht Spiele konzipieren, die weniger „süchtig“ machen? Und haben die Entwickler überhaupt eine Chance auf die Suchtproblematik Einfluss zu nehmen?

Sucht ist ein medizinisches Phänomen. D.h., wenn jemand süchtig nach Tabak, Alkohol, Sex oder Glückspiel ist, wird dieses als medizinisches Problem eingestuft. Wie jede Sucht muss dieses Krankheitsbild auch bei Games als solches wahrgenommen werden. Das heißt aber nicht, dass Games schuld daran sind, dass jemand süchtig wird, sondern das Problem ist weitaus vielschichtiger: die Persönlichkeit, die Lebensgeschichte, das soziale Umfeld u.v.m spielen hier mit rein.
Games sind natürlich stimulierende Fluchträume. Und jemand flieht, wenn er „gefangen“ ist. Entwickler sind aber in der Pflicht, sich über die Inhalte Gedanken zu machen, die sie entwickeln und vermitteln wollen, ganz so, wie es auch jeder Regisseur im Filmbereich tun sollte.
Künstlich Suchtfaktoren einzubauen ist unethisch. Wir dürfen dies aber nicht mit der langen Spielzeit verwechseln, die Games erfordern - und ein Zeichen dafür sind, wie lange und hochkonzentriert Spieler in der Lage sind, sich mit den Rätseln und Herausforderungen auseinanderzusetzen. Dennoch, der offene Dialog von Entwicklern und medizinischer Forschung ist auf jeden Fall eine Notwendigkeit, damit auch Mediziner Einblicke in die Prozesse erhalten.

6. Zocken Sie selber noch? Wenn ja, wie häufig und was spielen Sie gerne für Videospiele?

Berufsbedingt muss ich mich natürlich mit allerlei Games auseinandersetzen. Aber komplexe narrative Games wie Tomb Raider, Witcher III oder Fallout 4 gehören zu meinen Favoriten (vermutlich sehr zum Leidwesen meiner Studierenden). Dies sind keine Games, die man „durch“ hat, sondern man findet immer eine neue Stimulation und Auseinandersetzung, eine Geschichte neu zu erleben oder seine Fertigkeiten weiter zu meistern.

7. Mit welchen Spielen haben Sie den Einstieg in die Welt der Videospiele gefunden und zu welchen Spielen würden Sie in dem Zusammenhang Eltern junger Kinder raten?

Wie viele meiner Generation mit Pong in den frühen 70er Jahren und im Studium dann mit Wing Commander, einem 3D-Raumflugsimulator. Nach meiner Dissertation zum Thema Interactive Story Telling war ich dann aktiver Game Designer (das Gegenstück zum Regisseur) und Produzent.
Ironischerweise bin ich jemand, der immer sagt, dass man rausgehen sollte und ein Leben haben sollte. Ab in den Wald, in den Zoo, an die See, ins Museum usw. Bei jungen Kindern gilt eine starke Reglementierung, damit sie eben auch lernen, die reale Welt wahrzunehmen, Sport zu treiben, lernen und ihre sozialen Fertigkeiten schulen. Eltern von jungen Kindern würde ich zunächst Lernspielen raten, die das ästhetische, analytische, historische, soziale oder musikalische Vermögen in ihrem Kind fordern. Aber mit dem Kind zusammen - nicht als Betäubungsmittel!
Wer diese Spiele kennenlernen will: es gibt Messen, speziell für Familien - Games for Families: https://gamesforfamilies.de/
Noch ein Tipp: Reglementieren Sie nicht die Spielzeit pro Tag. Sie spielen kein Game in 30 oder 60 Minuten. Reglementieren Sie lieber den Tag, z.B. unter der Woche alle Hausaufgaben gemacht? Heute schon draußen gespielt? Prima, dann darf z.B. am Samstag ein paar Stunden „gezockt“ werden. Hausaufgaben nicht gemacht? Tja, dann ist der Rechner oder die Konsole mal weg, bis die Noten wieder da sind, wo sie hingehören.

8. Wie sehen Sie die deutsche Gamesbranche? Ist sie eine zukunftsträchtige und sichere Branche, zum Beispiel auch für Jugendliche und junge Erwachsene die aktuell aus der Schule kommen?

Die deutsche Gamesbranche ist eine junge, aufstrebende Branche, die vielfältig und vibrierend ist. Es gibt dort, wie in jeder Branche, gute, aber auch weniger gute Unternehmen. Doch gerade durch die zunehmende Professionalisierung, z.B. vorangetrieben durch den Game-Verband, die akademischen Ausbildungseinrichtungen und primär auch durch die Hochschulen, wie auch durch das ein oder andere Entwicklerstudio.
Ist sie zukunftsträchtig? Oh ja! Denn Games sind die führende Medienform im frühen 21. Jahrhundert, die mittlerweile in andere Lebensbereiche eindringt. Gamification von Alltagsprozessen heißt das Zauberwort: So finden Konzepte in der Automobilindustrie Anwendung, in Museen oder auch bei kritischen Infrastrukturen. Ich selbst hatte unlängst beim Cyberkommando der Bundeswehr einen Vortrag zu den Potenzialen gehalten.
Es wird neue Games-Jobs in Bereichen geben, an die wir derzeit noch nicht einmal denken.
Und ganz wichtig, für Eltern, die sich fragen, ob man denn davon leben kann: Der Umsatz von Games ist jetzt schon größer als von der (staatlich subventionierten) Film- und Musikbranche zusammen. Games - weltweit - werden zunehmen - und damit auch die Jobs!

Aber das bedeutet für Schüler, die sich dafür interessieren, dass sie eben nicht nur „daddeln“ dürfen, sondern lernen müssen! Welches Fach ist wichtig? Jedes! Gucken Sie sich hochwertige Games an - Sie finden darin jedes Schulfach: Geschichte, Geografie, Kunst, Musik, Englisch, Literatur, Architektur, Physik - und auch etwas Mathematik. Ich begrüße meine Studierenden immer mit den Worten, dass sie ein Hobby aufgeben!

9. Was ist für Sie der berechtigtste Kritikpunkt an Videospielen? Und wie würden Sie diesen verändern wollen?

Der Punkt ist die Wahrnehmung „Es ist doch nur ein Spiel!“ Der ist für die Entwicklung schädlich, weil all die anderen Potenziale damit blockiert werden. Wie verändere ich dies? Ganz einfach, dadurch, dass ich meine Studierenden zum Querdenken anrege, sie auch einmal klassische Literatur wie Shakespeare oder Hemingway oder auch Moderneres wie Haley oder Follett lesen lasse, und sie solche Szenarien recherchieren und als interaktive Erfahrung konzipieren lasse.

Prof. Dr. Michael Bhatty. | Foto: Miriam Meerfeld
Das Logo zur Serie. Montage: Rtz | Foto: pixabay
Autor:

Lokalkompass Wesel aus Wesel

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