Nabelschau oder: Abhandlung über den Versuch der medialen Verortung des Lokalkompass in Zeiten des digitalen verflixten 7. Jahres

Vor ein paar Wochen stolperte ich über Kommentare von LK-Autoren, die beklagten, dass die Nutzungsintensität dieses Portals zurückginge. Nach längerem hin- und herüberlegen habe ich mich entschlossen, mich diesem Thema zu widmen und zu stellen — eher für mich persönlich, aber wenn Sie unbedingt mitlesen möchten: bitte sehr. Tässchen Kaffee?

Ich verstand den Lokalkompass immer als schwarzes Brett.
Ein schwarzes Brett, an dem jeder seine Bekanntmachung anheften konnte. Und dann wurde dieses schwarze Brett mithilfe der schwarzen Kunst (Selbstbezeichnung der Gilde der Drucker) in beschriebenes Papier verwandelt. Damit sich die Freihauslieferung des durch schwarzer Kunst verwandelten schwarzen Brettes an die Menschen lohnte, wurden die Artikel eskortiert von Werbung. Diese Werbung war der Preis, der vom Leser bei nächstmöglicher Gelegenheit entboten wurde — oder eben nicht. Dieses Prinzip beruhte auf erstens Vertrauen, zweitens auf Zuversicht. Auf diese Weise wurde der Lokalkompass die kleinste informationelle Zelle der Berichterstattung im fraktalen Gewirr der Medien; der kleinste, aber nächste — und damit omnipräsente — Vertreter der Lokalzeitung.

Der Lokalkompass ist genauso nah am Menschen in seinem Einzugsbereich und Austragungsgebietes, wie (z.B.) eine Plauderei beim Bäcker es nur sein könnte.
Die Länderanstalten der ARD dagegen haben schon oft genug diesen recht unauthentischen Trick hier angewandt: da nimmt man sich ein globales Reißerthema (Trump! Atomkraft! Trump!) und befragt dazu meinungsgeladene Passanten, die vor der Kamera das zum Besten geben, was ihnen optional vorher angeboten wurde. In der Bauchbinde, dem Balken darunter könnte dann auch locker stehen: "M. Mustermann; hat eine Meinung und sagt sie im 15° Winkel an der Kamerafrau vorbei" (Gender! Da hat auch jeder eine Meinung zu). Das ist dann aber einfach nur eine zwanghafte, auf »lokalkompatibel« getrimmte Konvertierungsaktion sonst überregionaler Nachrichten.

Der Lokalkompass ist da deutlich ehrlicher. Hier ist wirklich alles lokal. Manchmal fast schon zu lokal…
Dann überspringe ich derartige Sachen auch mal (ganz ehrlich, wir sind ja unter uns), wenn z.B. der örtliche Kidneybohnen-Züchterverein zum Wochenende einem getrocknete-Kichererbsen-Vergolder-Wettbewerb ausruft oder sich darüber beklagt, dass der Gartenlaubenbesitzer von nebenan so verrückt ist, dass er seine Schlumpfsammlung per Megafon anschreit, weil er sich einbildet, die Figuren wären schwerhörig, weil die nicht antworten.
…Obwohl, das klingt doch recht interessant, wenn man's so liest — muss ich grad zugeben.

Doch wie funktioniert das heute in Zeiten vom Web2.0-einhalb?

Da muss man zuerst etwas klären über die hexagonale und die quadratische Zeit…
Druckraster sind sechseckig, wabenähnlich angeordnet, um den passendsten Winkel nutzen zu können, um alle nötigen Druckfarben miteinander zu kombinieren.
Pixelraster dagegen sind viereckig angeordnet, um jeden Bildschirmpunkt mit Informationen über Farbe und Helligkeit zu füttern.

Ich sehe diese Darstellungsform als Symboltextur ihrer jeweiligen Ära. Der Lokalkompass (und alle anderen Zeitungen) stehen aktuell etwas unentschlossen, skeptisch und unsicher zwischen den Epochen. Am Alten festhalten, das Neue erobern oder zweigleisig versuchen, das Beste von beidem zu vereinen, ohne in Identitätsverlust zu entgleisen?

Das Internet ist ja die viereckige Zeit.
Es kam plötzlich, wie ein pixeliges Ufo, vom dem keiner wusste, ob es mit friedlicher Absicht käme oder als feindlich gesinnte Besatzungsmacht, wie ein apokalyptischer Reiter und Hoffnungsträger in einem. Die Bildchen waren klein, die Euphorie letztendlich doch riesengroß. Was waren die Leute toll davon, wo haben sie nicht überall mitgemischt, eigene Seiten gebastelt, haben das Netz mit allem, was sie hatten, aufgefüllt, zugepropft und träumten vom utopischen second life.
Heute ist die Phase der Verliebtheit vorbei: man weiß, wie der andere nach dem Aufstehen aussieht und wie er riecht, wenn er Dampf ablässt. Aus den tollen Möglichkeiten wurde an mancher Stelle nur ein Troll, der die Hacke seiner Unzufriedenheit schwingt.

Und was hat es uns gebracht: die Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfischs im Ethanolaquarium. Und eine Diskussionskultur in der Rauheit irischer Highlands. Am Tag des Zorns…
Internetmüdigkeit macht sich breit. Man konsumiert es mittlerweile lieber, als man seine Inhalte produziert. Jetzt teilt man nur noch Bilder seines Mittagessens und honoriert Selfies mit Herzemoticons.
Aus Erstellung wurde blanke Darstellung.

Nein. Das ist ja nur die eine Seite.

Das Internet wächst proportional mit dem ausloten seiner Grenzen. Und in welche Richtung es wächst — das entscheiden diejenigen, die es nutzen.

[Es gibt übrigens einen bedeutenden Unterschied im Leseverhalten zwischen Print und Digital. Auf der Internetseite grast der Leser die Artikel nach dem frischesten und saftigsten Grün ab, stets auf der Suche nach dem Lieblingskraut. Die Zeitung nun kommt mit einem vorbereiteten, fixen und bunt gemischten Strauß an, dessen Zusammenstellung natürlich ein Mindestmaß an Mainstream aufweisen muss. Und natürlich ist da nicht für jeden was dabei — aber man kann dadurch auf Überraschungen stoßen, die man im netzbedingten Selektionsprozess impulslos plattgescrollt hätte.]

Die Kernkompetenz der Medien war immer das Narrative, das Erzählerische, die Geschichte an sich. Oder auf krawattisch: "Storytelling, liebe Macher da draußen, is Content at it's best!"
Das herausreißende und das aufmerken lassende einer Geschichte braucht natürlich zunächst eine Grundenergie, die über das Hintergrundrauschen der allgemeinen Reizübersättigung schwingt — doch wenn ihr Signal über medialem Normal Null liegt, findet sie ihre Rezipienten. Und in diesem Augenblick wird aus einer abstrakten Nachricht eine menschenbewegende Entität, ein Gedankentransfer und eine Gedankenvermehrung. So kriegt eine Idee den Rückwind kollektiver ideeller Kraft. Das sind Medien! Ein Medium für Ideen und Geschichten.
Erst aus Ideen, die zu Geschichten heranwuchsen, generierte der Mensch die Kraft, über sich selbst hinauszuwachsen und zum Kulturfolger seiner Selbst zu werden. Und auf dieser Reise befinden wir uns alle. Jeder hat eine Geschichte, jeder schreibt sie. Und manche schreiben sie hier auf. Und dann gilt: "Make Internet great again" — mit einer Contentoffensive mit der Feuerkraft der kambrischen Explosion.

Ich glaube, dass der Online-Kompass mit den richtigen Geschichten jede Printzeitung wegwehen und vor sich her treiben kann (was aber gar nicht nötig wäre, denn so verschieden sind die Print- und Onlineausgabe in ihrer Natur, da gibt es keine territoriale Konkurrenz) — solang die Möglichkeiten bedacht und mit Gespür für Interessantes ausgeführt werden. Wenn Geschichten erzählt werden, die nicht nur Gewinn sind, wenn man sie liest, sondern die sogar Verlust sind, wenn man sie nicht liest — dann wird es keinen User-Rückgang geben. Wenn Berichte (Lesens)Wert in sich tragen, lässt sich ihr Wert in Vertrauen und Zuversicht umsetzen — und diese Tugenden wirken Wunder; auch in einer Welt, die auf der einen Seite durchschaubarer und kalkulierter und auf der anderen manipulierender und darstellerischer nicht sein könnte.

Dann ist auch eine friedliche, fruchtbringende Koexistenz zwischem hexagonalen und quadratischem Raster möglich.
Ein schwarzes Brett aus schwarzer Kunst, und ein schwarzes Brett aus leuchtenden Pixeln. Da bin ich zuversichtlich.

Sind Sie immer noch da?! Wow, Sie haben ja Nerven. — Das gefällt mir.

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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