Auf ein Wort: Hausbesuch

Pfarrerin Adelheid Neserke | Foto: Wa-Archiv

Hausbesuch - eine gepflegte, hochbetagte Dame sitzt mir gegenüber. Dafür, dass sie bald schon die Hundert erreicht hat, ist sie erstaunlich agil mit wachem Verstand. Sie hat mich als Pfarrerin zu sich gebeten, weil sie keine Angehörigen in der Nähe hat. Mit dem Bestattungsinstitut hat sie schon alles für ihre Beerdigung besprochen, doch wenn ihr mal sehr plötzlich etwas passieren würde, dann wäre keiner da, der etwas über sie erzählen könnte. Daher sitze ich nun auf ihrem Sofa und höre zu, stelle Fragen und mache mit Notizen.
Sie berichtet mir von ihrem Elternhaus, von den älteren Geschwistern, die sich um die Nachzüglerin kümmerten und das Nesthäkchen begeistert verwöhnten. Mit ihr zusammen tauche ich ein in die 40er Jahre des letzten Jahrhunderts, erlebe mit, wie sie kurz vor Ende des Krieges nachts aus den Baracken flieht, in denen sie ihren sogenannten „Kriegshilfsdienst“ ableisten musste. Über Umwege kam sie damals unbehelligt nach Hause. „Du hast großes Glück gehabt damals“, hatte ihr späterer Mann zu ihr gesagt. „Manch einer ist dafür erschossen worden“.
Dann ein Sprung in unsere Zeit. Vor sieben Jahren ist ihr Mann verstorben. Fast 80 Jahre hatten sie einander gekannt und vertraut. Zwei Jahre später starb auch die einzige Tochter an einer schweren Erkrankung. Tiefe Trauer spricht noch immer aus ihren Worten: „Das überwindet man nie, wenn das eigene Kind vor einem stirbt“.
„Was hat Ihnen geholfen in dieser Zeit?“, frage ich nach. Sie zuckt mit den Schultern: „Ich weiß es nicht.“ Ich rufe mir noch einmal ins Gedächtnis, wie glücklich sie von ihrer Kindheit erzählt hat und sage: „Vielleicht hat sie die Liebe, die sie am Anfang ihres Lebens in ihrer Familie erfahren haben, getragen. Das kann eine gute Basis sein, die auch Schweres ertragen hilft“. Sie nickt, das könnte sein. In Gedanken füge ich hinzu: Durch die Liebe ihrer Familie hat sie erfahren, was vor rund 3000 Jahren auch Menschen der Bibel gespürt haben: „Von allen Seiten umgibst du mich, Gott, und hältst deine Hand über mir“ (Psalm 139,5).

Autor:

Thomas Meißner aus Witten

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