ÖPNV kostenfrei? Überlegung von drei Bundesministerien sorgt im Revier für Debatten

Mehr Schienenverkehr ist gewünscht, in Mülheim steht der Linienweg der 104 in Richtung Hauptfriedhof paradoxerweise in der Diskussion. Fotos: PR-Foto Köhring
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  • Mehr Schienenverkehr ist gewünscht, in Mülheim steht der Linienweg der 104 in Richtung Hauptfriedhof paradoxerweise in der Diskussion. Fotos: PR-Foto Köhring
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Dass sich Mülheim mit seinen Stilllegungen von Straßenbahnabschnitten auf einem Irrweg befindet - diese Meinung wird nun von einer weiteren Seite gestützt. Nicht nur, dass im gerade auf Bundesebene ausgehandelten Koalitionsvertrag die Verlagerung des Pendlerverkehrs auf die Schiene gefördert werden soll, jetzt sorgt auch ein Vorstoß aus drei Bundesministerien - aktuell nur geschäftsführend besetzt - zur Luftverbesserung für Aufsehen.

Die Bundesregierung will angesichts einer drohenden Klage der EU-Kommission gegen die andauernden Verstöße von Schadstoff-Grenzwerten in Ballungsräumen geradezu revolutionäre neue Maßnahmen ergreifen. Ein kostenloser öffentlichen Nahverkehr soll an fünf Orten getestet werden, um die Zahl von Pkw-Fahrten deutlich zu verringern und mehr Menschen Bus und Bahn schmackhaft zu machen. Dahingestellt muss bleiben, ob der Bund damit ernsthaft ein Ziel verfolgt, oder in erster Linie Zeit gewonnen werden soll. Zu den ausersehenen Orten zählt Essen, wo die Ruhrbahn den ÖPNV betreibt. Auch in Mülheim ist die Ruhrbahn der Anbieter von Straßenbahn und Bus.

Ein Milliardenprojekt für Jahrzehnte

In jedem Fall würde es sich um ein deutlich zweistelliges Milliardenprojekt für Jahrzehnte handeln, vor allem durch den Bund zu finanzieren. Zum einen kämen erhebliche Mehrkosten durch einen signifikant erhöhten Personalbedarf auf das Unternehmen zu. Hierzu müssten viele weitere Menschen entsprechend ausgebildet werden. Der vorhandene, in Teilen stark veraltete, Fuhrpark wäre massiv aufzustocken. In diesem Zusammenhang stünde außerdem erneut die Frage nach dem Rückbau der Stadtbahn-Fragmente auf die Meterspur der Straßenbahn zum Zwecke der verbesserten Flexibilität bei Strecken und Bahnen ganz oben auf der Tagesordnung. Und was, wenn das Projekt - so es sich nicht um ein politisches Ablenkungsmanöver handelt, mit dem Berlin die EU in Brüssel "hinzuhalten" gedenkt - am Ende nicht greift? Dann würde die Ruhrbahn gegebenenfalls über einen zu hohen Personalstand und zu viele Fahrzeuge verfügen.

Es sind viele Fragen zu klären

Aus dem Vorhaben selbst und der spezifischen Konstellation mit der in zwei Städten fahrenden Ruhrbahn ergeben sich zahlreiche Fragen. Kann das "Pilotprojekt Essen" auch auf die zweite "Ruhrbahn-Stadt" Mülheim übertragen werden? Wenn nicht, wie kann da rein logistisch die Abgrenzung zwischen kostenfrei und kostenpflichtig erfolgen? Diese Problematik übertragen auf die "Ruhr-Stadt" insgesamt: Wäre es nicht weitaus sinnvoller, dieses Projekt auf das gesamte Revier auszuweiten, anstatt fünf Standorte im gesamten Bundesgebiet anzuvisieren? Müssten die Pläne des Bundes nicht dahingehend ausgeweitet werden, in diesem Zuge eine einheitliche Schienenbreite und Bahnsteighöhe aller Schienenfahrzeuge mindestens im Bereich im Ruhrbahn umzusetzen? Und muss die Mülheimer Politik nicht spätestens jetzt ihre Verkehrspolitik mit der Kappung von Straßenbahnstrecken revidieren und sogar im Gegenteil stillgelegte Abschnitte wieder reaktivieren?
Zum Gedankenspiel aus Berlin erklären Uwe Bonan und Michael Feller, Geschäftsführer der Ruhrbahn: „Aus unserer Sicht ist dies ein interessanter Modellansatz um den ÖPNV zu stärken und weiterzuentwickeln. Es sind sicherlich noch viele Fragen zu klären, wie beispielsweise die Auswirkungen auf die vorhandene Infrastruktur sowie die damit verbundene Finanzierung. Als Verkehrsunternehmen finanzieren wir uns zu einem erheblichen Anteil aus Ticketeinnahmen, die bei einem kostenlosen ÖPNV wegfallen würden und so dauerhaft durch die öffentliche Hand kompensiert werden müssten. Außerdem würde ein kostenloses Angebot vermutlich zu einem steigenden Fahrgastaufkommen führen. Hier müssten entsprechende Machbarkeits- und Finanzierungsmodelle geprüft werden – das schließt auch eine Ausweitung des betroffenen Bedienungsgebietes ein, die diskutiert werden müsste.“
Mit dem Bedienungsgebiet zielen die Ruhrbahn-Männer auf Mülheim. Der hiesige Oberbürgermeister, Ulrich Scholten, ergänzt: „Wir kennen die Ankündigung der Bundesregierung lediglich aus den Medien. Bevor wir die Rahmenbedingungen nicht vorliegen haben, wäre es unseriös über möglich Auswirkungen auf den ÖPNV in Mülheim zu sprechen – warten wir es ab“! Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Mülheimer Vorstöße in Sachen Straßenbahn-Kappung ließ Scholten unbeantwortet.
Christina Kaldenhoff, Fraktionsvorsitzende der CDU im Rat der Stadt betont: "Der Vorschlag ´kostenloser ÖPNV´ ist bisher von diesen geschäftsführenden Bundesministerien in keiner Weise im Hinblick auf technische Umsetzbarkeit und Bundesfinanzierung mit konkreten Details unterfüttert. Diese schwerwiegenden Fragen sind noch völlig offen. Klar ist, dass eine, wie auch immer geartete, Umsetzung dieses Vorschlages auf kommunaler Ebene Steuerzahlergelder bedeuten." 

Schnellschuss, Nebelkerze oder was?

Die Grünen im Regionalverband Ruhr bewerten den Vorstoß der geschäftsführenden Bundesregierung als "dilettantischen Schnellschuss" - und wollen jetzt die Finanzierung dafür sehen. „Wenn ein solches Modellprojekt im Ruhrgebiet liegen soll, dann ergibt eine Insellösung für einzelne Kommunen doch keinen Sinn. Gerade die zahlreichen Berufspendler, deren Umstieg vom PKW auf Bus und Bahn zu einer nennenswerten Entlastung der Luft führen würde, pendeln doch über die Stadtgrenzen im Ruhrgebiet hinweg. Genau diese Zielgruppe benötigt dann aber wieder Anschlusstickets. Daher ist der Versuch, nur eine Ruhrgebietsstadt für ein Modellprojekt zu berücksichtigen, glatter Unfug und vollkommen unüberlegt“, so die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Regionalverband Ruhr, Sabine von der Beck.
Wenn man den Vorschlag, öffentlichen Nahverkehr auch preislich attraktiver zu gestalten, weiterdenke, sei klar, dass das Ruhrgebiet aufgrund fehlender Infrastruktur bei einer Hauruck-Aktion enorme Schwierigkeiten bekommen werde. Dabei räche sich, dass das Revier jahrzehntelang keine Finanzierung für wichtige Infrastruktur erhalten hat und stattdessen Prestigeprojekte wie "Stuttgart 21" gefördert wurden. „Für eine sinnvolle, bedarfsgerechte Ausbauinitiative fehlte jahrzehntelang das Geld, aber jetzt sollen Sprungkosten für neues Personal und Fahrzeuge plötzlich kein Problem mehr sein? Dass der Vorschlag der geschäftsführenden Bundesregierung mehr ist als eine Nebelkerze in Richtung EU, glauben wir erst, wenn wir die Milliarden dafür in den Investitionskassen der Region sehen. Aber wir lassen uns natürlich gern vom Gegenteil überzeugen und prüfen dann selbstverständlich auch gerne unkonventionelle Ideen. Denn mehr Fahrgäste in Bussen und Bahnen statt im Pkw, sind für saubere Luft in jedem Fall die richtige Zielrichtung“, so Sabine von der Beck.

Beteiligung Mülheims eingefordert

In einer gemeinsamen Initiative für die kommende Ratssitzung fordern SPD und Grüne die Verwaltung auf, eine Beteiligung Mülheims an einen eventuellen Feldversuch in Essen zum kostenlosen ÖPNV einzufordern. „Vor dem Hintergrund, dass die Stadt seit einem halben Jahr mit der Nachbarstadt Essen die gemeinsame Nahverkehrsgesellschaft Ruhrbahn betreibt, wäre nicht nachvollziehbar, im Essener Bereich der Ruhrbahn einen Nulltarif einzuführen, den Mülheimer Bereich derselben Gesellschaft aber davon auszusparen“, meint Daniel Mühlenfeld, nahverkehrspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Dies wäre auch angesichts der auf Landes- und Bundesebene immer wieder gerade von den Ruhrgebietsstädten abgeforderten Kooperation absurd.
Axel Hercher, verkehrspolitischer der Grünen, ergänzt: „Die Beteiligung Mülheims am Pilotversuch macht auch deshalb Sinn, weil angesichts der jüngst erfolgten Fusion der Nahverkehrsbetriebe eine Trennung in ein kostenfreies und ein kostenpflichtiges Tarifgebiet schon rein logistisch für die Ruhrbahn kaum zu bewältigen sein würde.“
Beide Fraktionen sind sich einig, dass mit der Stadt Essen als Mitgesellschafter der Ruhrbahn kurzfristig Gespräche geführt werden müssen, um eine gemeinsame, abgestimmte Position hinsichtlich der weiteren Planungen zur Umsetzung des Pilotversuchs in Abstimmung mit der Bundesregierung zu erarbeiten. „Dazu gehört auch die Erarbeitung eines Bedarfsplans, welche zusätzlichen Kapazitäten an Fahrzeugen, Personal und Infrastruktur benötigt werden sowie die Kalkulation der zu erwartenden Einnahmeausfälle“, so Hercher und Mühlenfeld.

Kommentar: Der Mülheimer Irrweg

Umfrage: Essen als Modellstadt für kostenlosen Nahverkehr?

Mehr Schienenverkehr ist gewünscht, in Mülheim steht der Linienweg der 104 in Richtung Hauptfriedhof paradoxerweise in der Diskussion. Fotos: PR-Foto Köhring
Die Strecke zum Hauptfriedhof wurde in Mülheim in einem Hauruck-Verfahren gesperrt. Nun dieseln dort Busse.
Autor:

Marc Keiterling aus Essen

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