In Würde scheitern

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, Augen auf und durch... | Foto: Marita Gerwin
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  • Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, Augen auf und durch...
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Dorfmeisterschaft 1962. Unser Seifenkisten-Rennen im Sauerland. Alle Kinder fiebern darauf hin. In jedem Keller wurde Wochen vorher schon gewerkelt und getüftelt. Die wildesten Chassis und die heißesten Öfen treten zu Tage. Auch meine Freundin Ingrid und ich versuchen unser Glück. Mit viel Experimentierfreunde haben wir unsere erste eigene Seifenkiste gebaut. Stolz wie Oskar sind wir. Balken als Chassis, Brett als Sitz, vier Räder vom alten Kinderwagen, Seil als Steuerung, altes Lenkrad vom Schrottplatz. Bremsen hatten wir nicht. Vertrauten wir doch auf unsere Schuhsohlen, wie beim Schlittenfahren im Winter.

Dann die Dorfmeisterschaft im Feld. Der Praxis Test schlechthin. Steil ist es hier im Sauerland. Ingrid und ich schieben die Kiste mit vereinten Kräften bergauf. Oben angekommen, stehen die vier Räder schon "auf halb acht." Na, super, das soll mir was werden? Schnell noch einmal die Räder festgeschraubt und auf gehts. "Fahr Du zuerst, ich übernehm die zweite Runde", überredet mich Ingrid. Ich fühl mich wie ein Versuchskaninchen. Oh, wei, oh wei! Jetzt zeigt sich, ob die Kiste alltagstauglich ist oder nur schön aussieht.

"Toi, toi, toi. Hals und Beinbruch, Du schaffst das, ich drück Dir die Daumen!" ruft sie mir wild entschlossen zu. Mir geht die Düse. Von meinen Schweißperlen auf der Stirn ganz zu schweigen. "Wer hat die Strecke nur ausgesucht? Das sind ja Serpentinen, wie in den Alpen" rufe ich gerade noch dem Rennleiter zu, einem 13-jährigen, triumpfierenden Burschen. Ein verschmitztes Lächeln ist sein einziger Kommentar. Hilft alles nichts. Ich muss dadurch.

Schon vor dem Start meldet mein Gehirn „Oha... das geht nicht gut. Aber, was soll´s. Ein Versuch ist es wert. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Augen zu und durch. Mut zur Lücke!“

Startnummer 7 auf die Pappe gekritzelt und am Pulli mit Doppelklebeband festgeheftet. Sonnenbrille auf, Schildmütze keck in den Nacken gedreht und los geht’s. An Sturzhelm und Protektoren wie beim heutigen Inlinern war gar nicht zu denken. Hatten wir nicht. Wäre auch irgendwie uncool gewesen. Dann der schrille Startpfiff auf drei Fingern. Zeitmessung mit der Stoppuhr von den Bundesjugendspielen - oben beim Startpunkt und unten im Zielleinlauf. Mit ein paar Kreidestrichen auf den Asphalt gemalt. Oben blau – unten rot! „Hoffentlich komme ich überhaupt im Zieleinlauf an!“, schießt es mir durch den Kopf.

„Nur nicht versagen. Hoffentlich hält die Kiste durch!“

Schon in der ersten Kurve schaukelt sich das Ding auf. Noch kann ich das Steuer rumreißen. Rechts, links, ein kurzes Stück geradeaus, wieder rechts. Zweite, dritte, vierte Kurve. Nichts geht mehr: Radverlust auf der linken Seite. Ab in den Graben. Leichte Abriebspuren und Schürfwunden, nicht nur an der Seifenkiste. Dann das Aus! Ich war nicht enttäuscht, sondern stolz auf mich selbst. Hatte ich es doch wenigstens versucht und ausprobiert.

Warum tue ich mir das an, obwohl ich vorher schon genau weiß, dass es nicht klappen kann? Vielleicht, weil wir uns darin üben müssen, in Würde zu scheitern. Als Kinder haben wir viel häufiger den Mut zur Lücke. Scheitern kann auch eine Chance sein!

Wir, die Erwachsenen sollten uns vielleicht häufiger daran erinnern, wie schön es war, die Füße baumeln zu lassen, anstatt jederzeit mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen.

Danke an Karlheinz Hosse, der mir in seinem Kommentar zu diesem Artikel einen tollen Link empfohlen hat. Ein Zeitdokument zum Seifenkistenrennen in Neheim-Hüsten.

http://www.neheims-netz.de/geschichte/20020612.php

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, Augen auf und durch... | Foto: Marita Gerwin
Selbstgebaute Seifenkiste | Foto: Marita Gerwin
Autor:

Marita Gerwin aus Arnsberg

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