An der Schwelle

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Zögernd tritt sie in die helle Öffnung und schaut in das Sonnenlicht hinaus. Vor ihr breitet sich in schier unendlicher Weite die bunte Vielfalt einer Sommerwiese aus. Der laue Frühlingswind streicht sanft durch ihre Halme. Das satte wogende Grün geht direkt in das tiefe Blau des Himmels über.
Sie steht unbeweglich, nimmt die einladend stille Tiefe des Himmels und die leise Bewegung zu ihren Füßen auf und tastet die Wiese mit den Augen ab. Ein Anblick der ihr fremd geworden ist. Sie hatte ihn schon fast vergessen.
Er ist verlockend. Sie könnte hinaustreten und durchatmen. Die Sonne atmen, das Grün der Wiese und das Blau des Himmels. Sie könnte den Wind spüren. Und die Wärme. Endlich wieder Wärme. Auf ihrer Haut, im Gesicht - und in ihrer Seele. Endlich ...

Sie könnte durch das weiche Grün zu dem Baum hinübergehen, der nur wenige Meter von ihr entfernt dort hinten auf der Wiese steht. Der alte Apfelbaum mit seinen weißen Blüten. Sie könnte sich an seinen Stamm anlehnen und seine Stärke spüren und seine Nähe. Wie früher. Als noch alles gut war.

Sie schaut zurück. Hinter ihr liegt dieser dunkle Raum, in dem sie jetzt drei Jahre lang gelebt hat. Drei Jahre, eine unfassbar lange Zeit. Sie war in seiner Dunkelheit herumgeirrt, immer auf der Suche nach der Tür. Sie hat sich überall gestoßen. Sie hatte sich verheddert in den vielen Stricken, die dort auf dem Boden liegen. Sie war gestolpert und immer wieder hingefallen. Und sie hatte geweint, immer wieder hatte sie in dieser Dunkelheit geweint, aus der sie nicht herauszufinden wusste. Jahrelang.

Es war niemand dagewesen, um ihr zu helfen, um sie zu trösten und ihr zu erklären, was passiert war. Vor allem zu erklären, warum sie so behandelt worden war.
Stattdessen hatte man auf ihr herumgetreten und zusätzlich noch auf sie eingeschlagen. Immer wieder. Obwohl sie schon am Boden lag. Tiefer ging es doch nicht mehr. Von allen Seiten hatten sie auf ihr herumgetrampelt, drei Jahre lang, weil sie verstehen wollte, was geschehen war und was so schlimm daran gewesen ist. Was hatte sie gemacht?

Sie war Mensch gewesen. Sie hatte Empathie entwickelt für diese Frau ihr gegenüber. Empathie, eine so wichtige Fähigkeit des Menschen.
Sie hatte begeistert an diesem Leben teilgenommen, von dem sie ihr erzählte, die Frau. Von ihrer Mutter und dem Darmkrebs und der Demenz. Von ihren Sorgen um den Vater, der die Mutter pflegte. Von ihren Katzen. Von ihrer Liebe für das Meer. Von der Freude am Klavierspiel. Und von der Freude am Theater.

Sie teilte mit ihr das Schicksal von der Krebserkrankung der Mutter. Auch die eigene Mutter war an Krebs gestorben. Es tat ihr leid, zu wissen, was dieser warmherzigen Frau bevorstand. Das Wissen um das Leiden und den schweren Abschied tat ihr für sie weh.
Sie teilte mit ihr die Freude an den Katzen, deren sensibles Gespür untrüglich zeigte, wem man vertrauen konnte. Sie teilte mit ihr die Begeisterung für das Meer und seine Launen. Sie teilte mit ihr die Freude am Klavierspiel und sie teilte die Begeisterung für das Theater. Ihre Interessen und ihre Hobbys waren gleich.

Sie hatte es doch freiwillig getan, die Frau ihr gegenüber. Sie hatte ihr so viel von sich erzählt, mit dieser warmen weichen Stimme, der sie so gern zuhörte. Und dann war sie auf einmal dagewesen. Die Freundschaft, die Wärme und die Sympathie für diesen Menschen, der ihr so ähnlich war und ihr so wunderbar vertraut erschien. Freundschaft, das schönste, was einem Menschen widerfahren konnte, weil sie durchs Leben trägt. Ohne freundschaftliche Zuwendung kann ein Mensch nicht leben.

Und dann war plötzlich alles so entsetzlich schlimm geworden. Sie hatte sich bei dieser Frau entschuldigt, als passiert war, wovor sie so viel Angst gehabt hat. Mit einer Karte, die sie selbst gestaltet hatte, und mit einem kleinen zarten Blumenstrauß.
Er durfte nicht zu groß sein, der Strauß, weil es sonst aufdringlich gewesen wäre. Und er durfte nicht zu klein sein, damit er seine Wirkung nicht verlor. Er durfte keine rote Farbe haben, weil diese Farbe, die sie selbst so mochte, im Kopf der Frau den völlig falschen Eindruck hervorgerufen hätte. Trotz der vielen Gemeinsamkeiten zwischen ihnen war deren Kopf so sehr viel anders.

Sie hatte es studiert, nicht mehr normal zu denken, wenn sie andere Menschen vor sich sitzen hatte. Sie hatte es studiert, erst einmal alles durchzuquirlen, was man in sie eingab. Wie eine Maschine. Sie konnte offensichtlich gar nicht anders. Sie konnte offensichtlich gar nicht denken, wie ein ganz normaler Mensch, wenn man sie besuchte, um mit ihr zu reden. Weil ihr Kopf so anders war, wenn sie in diesem Raum zusammensaßen. Man gab etwas hinein und es kam völlig anders wieder raus, als man es gemeint und eingegeben hatte. Aber woher hätte sie das wissen sollen? Sie hatte es nicht besser wissen können.

Es war deshalb sehr schwierig mit dem kleinen Strauß. Sie hatte helle Farben ausgesucht, drei weiße Rosen mit ganz zarten Köpfen und eine zartblaue Hortensie. Es tat ihr so unendlich leid, was da geschehen war. Weil es nicht geschehen sollte. Deshalb war sie ja immer wieder zu ihr hingegangen. Damit es nicht nochmal geschah. Sie hatte helfen sollen.
Aber sie half nicht und es passierte. Weil sie nicht geholfen hatte, obwohl sie immer wieder darum bat. Sie hatte fürchterliche Angst gehabt, dass es passieren könnte. Und es war passiert. Sie hatte ihren Ärger nicht kontrollieren können, damals, als sie herausgefunden hatte, dass die Frau ihr gegenüber, die sie doch mochte, ihr Vertrauen schwer missbraucht hatte.

Sie wollte sich entschuldigen, und sie hatte sich entschuldigt. Und die Frau, die sie so mochte und die sie nicht verlieren wollte, hatte sie auch angenommen, die Entschuldigung. Sie war darüber sehr erleichtert. Dann hat sie gehen müssen. Sie hatte gehen müssen, obwohl sie sich entschuldigt hatte und obwohl die Frau gesagt hatte, sie nehme die Entschuldigung entgegen.

Der Moment des Abschieds sei gekommen, hatte die Frau zu ihr gesagt. Sie sei zu sehr Mensch gewesen, hatte sie gesagt. Das ginge nicht, hatte sie gesagt. Obwohl sie doch selbst dafür gesorgt hatte, dass sie Mensch geworden war. Dass diese Freundschaft überhaupt entstehen konnte.

Sie hatte gehen müssen und sie war gegangen. In die Kälte und in diese Dunkelheit. In diesen schwarzen Raum mit den vielen Stricken auf dem Boden, in dem sie jetzt drei Jahre lebte. Immer in Gedanken an die Wärme dieser Freundschaft. An die gemeinsamen Interessen. An die deshalb so wunderbare Nähe. An die warmherzige Stimme, der sie so gerne zugehört hatte, weil sie Geborgenheit vermittelte. Und daran, dass sie keine Freundin werden durfte und auch nie eine Freundin würde werden dürfen.

Immer wieder hat sie daran denken müssen. Und immer wieder weinte sie, weil sie es nicht verstand. Immer wieder wanderten die Gedanken zu den Freunden dieser Frau, von denen sie erzählt hatte. Zu denen, die sein durften, was sie so gerne wäre und nicht sein sollte.
Und immer wieder hat sie daran denken müssen, dass diese Frau von einer Freundschaft sprach, die einmal entstanden war, weil man sich sympathisch fand. Genauso, wie sie sich doch sympathisch waren. Weshalb sie ja auch auf den Fortbestand der Freundschaft hoffte. Als die Frau sie schließlich unerbittlich wegschickte. Für immer.
Sie weinte in Gedanken daran, dass diese Frau sich ihre Freunde selbst aussuchte, dass sie strikt verfügte, wer ein Freund sein durfte und wer nicht. Und dass sie selber nichts zu sagen hatte und auch nichts mehr sagen durfte. Wie in der Kindheit. Nur dass sie jetzt erwachsen war.

„Vergiss die Frau, die Dir so weh getan hat“, regt sich eine dünne Stimme tief in ihrem Innern, als sie an der Schwelle steht und auf die Wiese schaut.
„Vergiss die Frau, die so derart überzeugt war von sich selbst und ihren Fähigkeiten und von dieser Therapieform, dass sie die Qualen gar nicht sah, die Du mit ihr und dieser Form gehabt hast.
Vergiss sie alle, die auf dich eingeschlagen haben, damit Du Dich nicht gegen dieses Therapieverfahren auflehnst.
Vergiss sie alle, die Dir solange Steine in den Weg geworfen haben, bis Deine Beine müde wurden und nicht mehr drübersteigen konnten.
Lerne zu vergessen. Und geh einfach nie wieder in eine solche Therapie, die das menschliche Empfinden derart in die Irre führt und den Patienten dann einfach von sich stößt, wenn passiert, dass durch das Vorgehen Freundschaften entstehen.
Vergiss den Irrsinn einer Psychotherapie, die von sich behauptet, dem Menschen gut zu tun. Tritt hinaus in dieses helle warme Licht und fange endlich wieder an, zu leben. Da draußen kannst Du so viel machen… Da ist noch Leben bis zum Horizont.“

Drei Jahre Dunkelheit. Sie schaut hinaus in das helle warme Sonnenlicht, auf das satte Grün der Wiese, auf die bunten Blumen, auf den alten Apfelbaum mit seinen weißen Blüten und auf das tiefe Blau des Himmels. Dann schlägt sie die Tür entschlossen zu.
Sie kehrt in die Dunkelheit zurück. Die Zeit ist noch nicht reif. Sie wagt noch nicht den Schritt hinaus. Es bleibt noch viel zu viel zu tun. Sie muss die Dunkelheit erst noch sortieren.

Sie wird aber ein Fenster suchen, das sie öffnen kann, um nicht zu vergessen, wie schön es draußen ist. Und sie wird ein zweites Fenster suchen, um es zu öffnen, damit das andere nicht allein ist. Weil Freundschaft ausgesprochen wichtig ist. Sie darf nicht achtlos weggeworfen werfen, wenn sie entstanden ist, weil es die Seele eines Menschen tötet.

Traurig starrt sie in die Unordnung der Dunkelheit. Das sympathische Gesicht der Frau steht vor ihr, das Lächeln und die hellen Augen. Sie wird es nicht vergessen.
Es wäre schön, wenn sie endlich einmal mit ihr reden könnte. Um zu erfahren, wie es ihr selbst damit ergangen ist. Mit dem Wissen, dass sie aktiv etwas ins Leben rief, das nicht entstehen sollte.
Und mit dem Wissen, dass sie einen Menschen ganz strikt von sich wies, der ihr das Schönste schenkte, was man einem anderen Menschen schenken kann: die Freundschaft.

Menschen, denen wir uns tief im Innern verbunden fühlen,
können wunderbare Begleiter unseres Lebens sein.
Sie wärmen unsere Seele, wie die Strahlen der Sonne
und tragen uns durch schwere Zeiten, wie eine unsichtbare Kraft
weil sie uns spüren lassen, dass wir nie allein sind,
was immer uns auch zustößt.

© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen Februar 2012

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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