Von der heilsamen Kraft verborgener Fähigkeiten - Theater als Form der Therapie

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Sie saßen im Kreis in der Mitte des Raumes: Marita, Anton, Christina, Bulli, Sandra und Toni. Und natürlich Hanna Härtel. Sie hatte die Zettel ausgeteilt, die sie jetzt alle in den Händen hielten oder auf den Knien liegen hatten. Sie würden Rumpelstilzchen lesen.
Ausgerechnet Rumpelstilzchen, ein Märchen, das sie noch aus ihrer Kindheit kannte. Oh Gott …

Na gut, lesen ging ja noch. Jeder ein paar Zeilen, dann las der nächste weiter. Immer im Kreis.
Lesen konnte sie, auch wenn sie ihre Stimme nicht so gerne hörte, wenn sie anderen vorlas.
Aber dann … ?
Man hatte sie gefragt, ob sie in diese Gruppe wollte. Irgendetwas musste sie ja machen, dazu war sie hier.
Erst hatte sie gezögert. Dann aber war sie neugierig geworden. Neugier auf etwas völlig Unbekanntes war etwas, das ihr völlig fremd war. Das kannte sie an sich noch nicht. Sie fühlte sich mit dieser Neugier aber gar nicht mal so schlecht. Vielleicht war das ein gutes Zeichen.

Vielleicht ließ sich das Leben einfacher bewältigen, wenn man mit Neugier in die Zukunft ging.
Nach vorne schauen, offen und aufmerksam, aufnahmebereit für das, was kommen würde.
Traumhaft, wer das konnte!
Toni hatte immer Angst gehabt vor dem, was vor ihr lag. Schon seit sie denken konnte. Jetzt war sie 45 Jahre alt und sie war krank.
Wahrscheinlich war sie auch schon damals krank gewesen. Als sie noch ein Kind war und später, als sie älter wurde. Sie hatte es nur nicht gewusst; hatte nicht gewusst, dass diese permanente Scheu, die Furcht und diese Angst, die Aufgaben nicht zu bewältigen, die sich ihr stellten, schon immer Teil der Krankheit waren.
Einer Krankheit, die anderen so schwer vermittelt werden konnte,
weil sie nach außen hin doch ganz gesund aussah.
Depressionen aber sah man nicht.
Depressionen trug man drunter.

„Die Gruppe“, das war keine Gruppe einer Volkshochschule und auch keiner anderen Bildungsstätte. Obwohl es eigentlich doch fast ein wenig ähnlich war. Letztlich ging es hier ja doch um eine Form der Weiterbildung, nur dass die Krankenkasse für diese Art der Bildung zahlte. Toni war in einer Klinik; wenn auch „nur“ in einer Tagesklinik.
Sie hatte sich für diese Einrichtung entschieden, weil der anthroposophische Gedanke, dem diese Tagesklinik folgte - was immer das auch hieß - ein wenig Zutrauen vermittelt hatte. Trotzdem war es eine „Psychiatrie“, ein Wort, das offen auszusprechen noch immer nicht ganz ungefährlich war, weil viel zu viele Menschen damit nicht verbinden konnten, dass es hier um die Entwicklung seelischer Gesundheit ging und nicht um ein Verwahren abnormer Verhaltensweisen.

Jetzt also saß sie hier in dieser Märchengruppe.
„Wir lesen uns das Märchen erst zusammen durch und dann spielen wir es nach“, hatte Hanna Härtel, die als Krankenpflegerin die Gruppe leitete, den Teilnehmern erklärt.
Nachspielen!
Theaterspielen war so mit das Schlimmste, was Toni aus der Schulzeit in Erinnerung geblieben war.
Vor anderen auf einer Bühne stehen,
von allen angeschaut zu werden
und vor allen zu versagen ...
Und am Ende dann das Tuscheln und das Lachen. Einfach nur entsetzlich.
Toni drückte sich um alles,
blieb unauffällig in der Masse, um nicht aufzufallen.
Sollten sich die anderen doch blamieren, wenn sie wollten.

Hier in der Klinik aber war das anders.
Hier gab es keine Hierarchien,
kein besser und kein schlechter,
keinen Chef und keinen Angestellten,
keine Anwältin und keine Putzfrau.
Hier waren alle gleich.

Hier verstand man die Erschöpfung einer Depression,
die Traurigkeit
und auch die selbstunsichere Persönlichkeitsstruktur.
Toni hatte hier nichts zu verlieren, wo man sich gegenseitig achtete und mit Respekt begegnete. Mit Respekt vor dem individuellen Schicksal jedes Einzelnen, das ihn so geprägt hatte, dass sie alle hier zusammen Gast in einer Klinik waren.
Gäste, die nach dem Weg des Lebens fragten, weil sie ihn verloren hatten …

Welche Rolle dieses Märchens Toni spielen wollte, musste sie auf einmal gar nicht lange überlegen.
Nachdem es einmal durchgelesen war, wusste sie Bescheid. Als Erwachsene und depressiv erkrankter Mensch sah sie das Märchen plötzlich mit ganz anderen Augen.
Sie erkannte dessen Botschaften.
Was gab es schlimmeres, als das Anpreisen der Fähigkeiten anderer, die diese gar nicht hatten, aber zu erfüllen hatten, weil sie einmal zugesichert waren?
Von außen auferlegte Zwänge, die zum eigenen Gefängnis wurden.

Sie kannte das aus dem Beruf, der sie am Ende nur noch überfordert hatte, weil die Auftraggeber auf die Firma Druck ausübten, der nicht mehr zu verkraften war:
„Sie sind doch ein renommiertes Büro.
Natürlich werden Sie das Gutachten zur nächsten Woche fertig haben!
Stellen Sie halt noch ein paar von Ihren Mitarbeitern ab.“

Toni war damals froh gewesen, in die Erziehungszeit zu gehen.
Sie fühlte tief im Innern mit der Müllerstochter, deren Vater dem Rumpelstilzchen zugesichert hatte, dass die Tochter Stroh in Gold verwandeln konnte.
Sie stand hinter ihm, als er die Worte sprach und traute sichtbar ihren Ohren nicht.
Was tat der Vater denn da nur?
„Nein Vater, nein, bitte, versprich doch so was nicht, Du weißt, ich kann es nicht.“
Verzweifelt klammerte sie sich an den Vater,
frierend vor Entsetzen weinte und zupfte sie an seiner Jacke.
Mit leerem Blick um Hilfe suchend schaute sie den Raum an, in dem genau vier Leute saßen: Hanna Härtel, Anton, Bulli und Sandra, die als nächste spielen würden, wenn der erste Durchlauf fertig war.

Dass da jemand saß und zusah, war zum ersten Mal in ihrem Leben völlig nebensächlich.
Toni spielte keine auferlegte Rolle mehr, nichts zwanghaft Eingeübtes, um sich ängstlich zu behaupten.
Sie brauchte nicht zu überlegen, wie die Rolle richtig auszufüllen war.
Sie spielte einfach, horchte nur in sich hinein.
Toni war die Müllerstochter, Toni war - sie selbst.

Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Toni Sicherheit.
Sie verinnerlichte, dass sie etwas konnte.
Sie konnte spielen.
Toni hatte Fähigkeiten, aus denen sie sehr überzeugend schöpfen konnte.
Zum allerersten Mal
hatte sie
die Maske abgelegt
und das Korsett,
das sie zusammenhielt
und die Luft zum Atmen nahm.

Sie griff einfach nur in die Erfahrungskiste,
ließ sich in die Rolle fallen, die sie nachempfinden konnte.
Sie weinte,
tobte,
schrie,
nahm sich zurück,
war nachdenklich und leise
und achtete dabei sehr intensiv auf das Spiel der anderen,
die durch ihr Agieren den Impuls zum weiteren Verlauf des Märchens gaben.

Toni lernte eigenständig das kontrollierte Loslassen inneren Erlebens,
sie fühlte Spontaneität und Kreativität im Umgang mit sich selbst
und sie spürte,
wie sehr die Zwänge auferlegter Konventionen
ihr eigenes „Ich“ auf der Bühne des Lebens ins Abseits gedrängt hatten.
Toni hatte vor lauter Angst, den vielen Vorschriften nicht zu genügen,
an sich selbst vorbeigelebt.

Sich selber loszulassen
und endlich diese Scheu nicht mehr zu spüren
fühlte sich U N E N D L I C H gut an.

Toni war endlich einmal frei...

© Sabine Schemmann

Anm.: In den vergangenen Tagen wurde die LWL-Klinik Bochum unter ihrem Ärztlichen Direktor Prof. Dr. Georg Juckel von der Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Anti-Stigma-Preis ausgezeichnet.
Die WAZ berichtete ausführlich am 01.12.12.
In Zusammenarbeit mit dem Schauspielhaus Bochum hat die Klinik vor drei Jahren das Theaterprojekt „Club in der Psychiatrie“ in‘s Leben gerufen.
Der Kontakt mit dem Theater und die Schauspielerfahrung haben auf beiden Seiten zu guten Erfahrungen geführt.
Das Projekt und die Aufführungen wurden von der Öffentlichkeit positiv angenommen.
Alle bisherigen Vorstellungen waren ausverkauft.

Ort der voranstehenden Erzählung ist nicht die Bochumer LWL-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie.
Die Erfahrung, dass Theaterspielen eine stundenweise Befreiung aus den Zwängen der Konventionen des Alltäglichen und ein therapeutisches Eintauchen in eine befreiende Parallelwelt ist, die vergessen lässt und eigene Fähigkeiten bewusst macht, ist hingegen vergleichbar.
Alle Namen der handelnden Personen sind frei gewählt.

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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