Wenn durch Ernährung Leidensdruck entsteht: Das Wechselspiel von Essstörungen und Depression

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Dass körperliche und seelische Erkrankungen einander beeinflussen und bedingen, weil Körper und Seele eine Einheit bilden, ist heute allgemein bekannt.
Wie Essstörungen und Depressionen zueinander in Verbindung stehen, vermittelte ein Vortrag, zu dem die LWL-Klinik zusammen mit dem Bochumer Bündnis gegen Depression am Donnerstag, 26.01.12 in die Klinik an der Alexandrinenstraße eingeladen hatte.

Prof. Dr. med. Stephan Herpertz, seit 2 Jahren Direktor der LWL-Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, brachte im Verlauf des einstündigen Vortrags zum Ausdruck, dass beide Erkrankungen zwar in Zusammenhang zu bringen sind, jedoch nicht jeder Betroffene, der unter einer Essstörung leidet, auch automatisch an einer Depression erkrankt ist bzw. an ihr erkranken muss, und umgekehrt nicht jede Depression zwangsläufig mit einer Essstörung einhergeht.

Appetitminderung gilt aus dem Blickwinkel einer psychischen Störung in der Regel als eines der vielen typischen Begleitsymptome einer Depression. Wer an ihr erkrankt ist, dem fehlt oft auch der Appetit, was dazu führen kann, dass der Betroffene Gewicht verliert.
Allerdings wird zunehmend deutlich, dass im Zusammenhang mit der Erkrankung auch die vermehrte Nahrungszufuhr ein Problem darstellen kann, was gleichermaßen ein - wenn auch atypisches - Symptom der Essstörung darstellt.

Im Zentrum des abendlichen Vortrags von Professor Herpertz stand die verstärkte Auseinandersetzung mit den verschiedenen Erscheinungsformen. Während unter einer Anorexia nervosa die wohl bekannteste, die Magersucht, verstanden wird, bezeichnet die Bulimia nervosa die übermäßige bis ungezügelte Form des Essens, wobei hier zusätzlich die Binge Eating Störung unterschieden wird.

Von einer Anorexie sind vorwiegend Frauen betroffen. Auf 250 behandelte Patienten kommen nur ca. 15 Männer. Die Geschichte vom Suppen-Kaspar und Frank Kafkas „Ein Hungerkünstler“ sind bekannte literarische Auseinandersetzungen mit der Erkrankung, die alle Kriterien der Anorexie erfüllen, jedoch ebenfalls eine atypische Ausprägung aufgreifen, da es sich in beiden Fällen um männliche Betroffene handelt. Bezeichnend für die Störung ist die auffallende Magerkeit der ihr verfallenen Personen.

Aus diagnostischer Sicht kennzeichnend ist der selbst herbeigeführte Gewichtsverlust, wobei das Gewicht mindestens 15 % unter der Norm liegt. Die Angst, abzunehmen, sei nicht ausgeprägt, da die Gewichtsreduzierung ganz bewusst gewollt ist. Ohne den Willen zur Reduktion ist Magersucht nicht denkbar. Zugrunde liegt eine Körperschemastörung mit dem beherrschenden Gedanken, zu dick zu sein.

Diese wird häufig den Einflüssen der Werbung, wie auch auf den Anforderungen bestimmter Berufe oder Hobbys zugeschrieben. Jeanswerbung z.B. assoziiere durch die hauteng getragene, figurbetonte Kleidung das Streben nach ewiger Jugendlichkeit. Ballett erfordere aus den beruflichen Anforderungen heraus eine Untergewichtigkeit. Der Beruf des Models habe über die Jahre zu stark veränderten, immer schlankeren bis mageren Körperidealen und dadurch zu übermäßigem Streben nach einer Verminderung des Körpergewichts geführt, da ein Model den erfolgreich in Blickpunkt öffentlichen Interesses stehenden Menschen repräsentiert, führte Professor Herpertz aus.
Bezogen auf die deutsche Bevölkerung handele es sich bei der Anorexie um eine eher seltene Krankheit, gab er zu bedenken. Betroffen seien maximal 2,1% der Mädchen und jungen Frauen im Alter zwischen 12 und 20 Jahren.

Das bezeichnende an der Anorexie ist das Zusammentreffen mit dem jugendlichen Alter, in dem empfindlicher auf psychische Störungen reagiert wird. Mädchen und junge Frauen eifern in besonderem Maße vermeintlichen Schönheitsidealen nach, da im Übergang zur Welt der Erwachsenen Attraktivität und gewünschte Akzeptanz stark mit dem eigenen Selbstwert verknüpft werden.
Die Ansicht, nur dann wertgeschätzt zu werden, wenn auch die Figur stimmt, verankert sich durch äußere Einflüsse gesteuert gerade in der labilen Entwicklungsphase extrem stark im Bewusstsein. Es beginnt der verzweifelte Versuch, den sich natürlich ausbildenden Rundungen entgegen zu wirken und das eigene Gewicht selbst in die Hand zu nehmen.
Auch das Verdeutlichen von Autonomie den Eltern gegenüber, von denen man sich lösen möchte, trägt zusammen mit dem sich in der Pubertät verändernden Gefühl von Hunger und Sättigung zu der entgleisenden Entwicklung bei.

Einer Forsa-Studie zufolge haben jedes 3. Mädchen unter 10 Jahren und 60% der 15-jährigen bereits Diät-Erfahrungen gesammelt. Jede 2. Frau hat bereits eine längerfristige Diät durchgeführt. Der Umgang mit Ernährung und Reduzierung des Gewichts spielt insofern gedanklich wie praktisch eine große Rolle, wobei nicht alle diese Frauen grundsätzlich essgestört sind.

Es sei in der Tat so, dass der Mensch heute durch seine Ernährungsgewohnheiten bei gleichzeitig verringerter körperlicher Bewegung immer dicker würde und die Jugendlichen durch Konfrontation mit den Model-Idealen dadurch noch umso stärker unter Stress gerieten, erklärte der Referent. Der ungesunde Trend, dass sich in wenigen kleinen Mahlzeiten immer mehr Kalorien verbergen, setze sich immer mehr durch.

30 - 45% der an einer Anorexie leidenden Betroffenen entwickeln das Risiko, an einer Depression zu erkranken. Das ist in der Regel dann der Fall, wenn sich Leidensdruck einstellt, wenn bewusst wird, dass aufgrund der Magersucht entscheidende Lebensaufgaben und -funktionen nicht mehr wahrgenommen werden können, die Lebensfreude stark vermindert ist und der soziale Rückzug einsetzt. Die einsetzende Abwärtsspirale kann in die psychische Erkrankung führen.

Das Problematische an einer Magersucht ist die einsetzende Störung des Knochenstoffwechsels, der bereits bei 35- 40 Jährigen zu Osteoporose führen kann und zu Schwund von Hirn- und Muskelmasse beiträgt. Die körperlichen Folgen einer Magersucht führen laut Professor Herpertz bei 15 von 100 Patienten in den Tod.

Eine Anorexie ist durch Psychotherapie behandelbar. Sie nimmt mindestens 6 Monate in Anspruch und bedingt die stationäre Aufnahme.
Von den Betroffenen, die sich einer Behandlung unterziehen, könne die Hälfte mit Hilfe einer Psychotherapie als geheilt entlassen werden, führte Prof. Herpertz anhand seiner Erfahrungen mit Therapien aus. Bei 10,4% zeige die Behandlung keine Wirkung, sie behielten das Vollbild der Anorexie bei. 20,8% der Patienten könnten als partiell geheilt bezeichnet werden, wobei kein normales Essverhalten erzielt werden könne. 15,4% versterben, wobei bei 2,6% die Todesursache nicht bekannt sei, so dass auch Suizide vermutet werden könnten.

Als problematisch für eine Behandlung bezeichnet der Experte die Tatsache, dass die auffällig veränderten Ernährungsgewohnheiten der beginnenden Erkrankung zunächst eher die Eltern der jungen Betroffenen mit Besorgnis erfüllen.
Einem sich fremdbestimmt in Therapie begebenden Patienten fehlt in der Regel die Behandlungseinsicht, was eher kontraindidziert sei. Hier muss deshalb zunächst der Sorglosigkeit begegnet werden, so dass über das Ansprechen der eigenen Einsicht eine Auseinandersetzung mit der Problematik ermöglicht wird und mit therapeutischer Unterstützung ein entgegenwirkendes Handeln ansetzen kann.

Ein Zustand der Verleugnung ist jedoch in der Regel dann nicht mehr der Fall, wenn das Leiden spürbar wird, weil die Betroffenen selber merken, dass sie sich täglich ausschließlich mit den Themen Ernährung und Kleidung auseinandersetzen und dieser Tunnelblick eine Konzentration auf andere Aspekte des Lebens kaum mehr möglich macht. Dann wird ihnen deutlich, dass sie Hilfe in Anspruch nehmen sollten, wobei die therapeutische Behandlung auf Gewichtszunahme ausgerichtet ist.
Ohne eine solche sei eine Therapie als erfolglos zu bezeichnen, erklärt Prof. Herpertz ohne Umschweife. Deshalb sei eine ambulante Behandlung auch weniger empfehlenswert, da keine Gewichtskontrolle erfolgen kann.
In der Anorexie-Therapie komme es eher weniger darauf an, nach verborgenen Problemen zu forschen, da eine Depression nicht Ursache sein muss, sondern in der Regel eher eine Folge der Essstörungen ist. Allerdings müsse den typischen negativen Annahmen wie: „Wenn ich normal esse, nehme ich unkontrolliert zu. Nur schlank bin ich wertvoll und werde geliebt“, therapeutisch begegnet werden. Sei die Behandlung erfolgreich, dann gehe auch die Depression zurück.

Die Therapie der Anorexie ist folglich vorrangig symptomzentriert. Sie arbeitet mit Methoden der Belohnung. Wer zunimmt, erhält mehr Freiheitsgrade und kann weiterführende Behandlungen wie Gestaltungs- und Bewegungstherapien in Anspruch nehmen, wobei 750 Gramm pro Woche erreicht werden müssen.
Wer nicht zunimmt und die Anforderungen an die Behandlung nicht erfüllt, dem droht zunächst mit seinem Einverständnis die Ernährung mit der Magensonde, bei deren Ablehnung es dann aber konsequent zu einer Entlassung mit der Empfehlung des Neuanfangs in einer anderen Klinik kommt.

Die konträre Form zur Anorexie ist die Bulimie, von der Männer so gut wie nicht betroffen sind, während bei den Frauen mit zunehmendem Alter eine abnehmende Betroffenheit zu verzeichnen ist.
Sie beschreibt den typischen Kontrollverlust der Nahrungsaufnahme, wobei das übermäßige essen mit gegenregulatorischen Maßnahmen einhergeht, bei denen es sich allerdings nicht gleich automatisch um herbeigeführtes Erbrechen handeln muss. Es werde eher zunächst versucht, nach zu ungezügeltem Verzehr erst einmal nicht zu essen oder entsprechend intensiver Sport zu treiben, um Kalorien abzubauen.

Leidensdruck macht sich auch hier bei den Betroffenen bemerkbar, wenn es zu einer übermäßigen Beschäftigung mit dem Essen und dessen Folgen kommt. Der Vorsatz, nach zu viel Konsum von Nahrungsmitteln erst einmal nichts zu essen, führt absehbar in eine neue Problematik. Einsetzenden Heißhungerattacken wird mit der Aufnahme vieler Nahrungsmittel in sehr kurzer Zeit begegnet. Dieser Kontrollverlust wird als belastend erfahren, da man nicht schaffte, gefasste Vorsätze auch umzusetzen.

Analog zur Anorexie gilt auch für Bulimie, dass der psychische Stress schließlich um so größer wird, je mehr das reale und das erwünschte Aussehen auseinander klaffen.
Das wiederkehrende Erleben eigenen Versagens führt zu Selbstwertminderung und birgt die Gefahr des Abrutschens in eine Depression. Da sich der Körper gegen verändertes Essverhalten wehrt, führt der eigene Versuch kognitiver Kontrolle immer wieder zu Kontrollverlust. Ohne therapeutische Unterstützung führe hier kein Weg hinaus, gab. Prof. Herpertz zu bedenken.

Übergewichtigkeit ist eine weltweit ansteigende Entwicklung. Jedes vierte bis fünfte Kind gilt als übergewichtig. 70% aller Elfjährigen haben eine hohe Wahrscheinlichkeit, zu dick zu bleiben, wenn bis zu diesem Alter keine Reduzierung erreicht werden konnte. Während sich ein Hunger leidender Körper erholen kann, wenn ihm wieder Nahrung zugeführt wird, ist die Gewichtsreduzierung als Folge übermäßiger Nahrungszufuhr nur schwer möglich.

Ziel einer Behandlung ist das Erreichen gezügelten Essverhaltens. Als Therapieformen finden die Interpersonelle Therapie, die am Selbstwertgefühl des Patienten ansetze, und die Kognitive Verhaltenstherapie, die verstärkt auf Einsicht setze, Anwendung, wobei sich KVT bereits in vielen Studien als wirksam erwiesen habe.
Beide Formen haben eine unterschiedliche Herangehensweise, wobei KVT zunächst eine zunächst schnellere Wirksamkeit zeige. Das Therapieergebnis sei am Ende allerdings vergleichbar. Medikamentös sei die Erkrankung nicht behandelbar, nur ein einziges Medikament sei derzeit zugelassen.
Für die Behandlung der Bulimie gelten laut Prof. Herpertz die gleichen Erfolgszahlen wie für die Therapie der Anorexie. Die Hälfte der Behandelten könne als geheilt bezeichnet werden.

Die Binge Eating Störung als einer Sonderform der Bulimie kennzeichnet sich durch wiederkehrende Episoden von Essanfällen. Die während der Heißhungerattacken aufgenommene Nahrungsmenge ist deutlich größer als normal und geht mit dem Gefühl einher, nicht aufhören zu können. Hier kommt es zu einem regelrechten Kontrollverlust über das eigene Essverhalten, wobei nicht, wie bei der Bulimie oft praktiziert, Erbrechen eingeleitet wird.

Betroffen seien 3% der Bevölkerung, wobei das Geschlechterverhältnis fast ausgeglichen sei. Im Gegensatz zur Anorexie liege das Erstmanifestationsalter bei 20-30 Jahren. Unbehandelt bliebe das Verhalten bei 40-50% der Betroffenen unverändert, erläuterte der Referent.

Auch für diese Störung gilt, dass Leidensdruck einsetzt, wenn zusätzlich zur Wahrnehmung der Unkontrollierbarkeit des Ernährungsverhaltens die Gewichtszunahme einsetzt. Selbstwertstörungen, Adipositas und Depression sind Komorbiditäten dieser Form der Essstörung, sie gehen als diagnostisch abgrenzbare Begleiterkrankungen mit ihr einher.
Während Kurse zur Gewichtsreduzierung nur wenig gut anschlagen, verzeichnen Psychotherapien und angeleitete Selbsthilfegruppen eine gute Wirksamkeit bei der Behandlung der psychischen Aspekte. Allen gemeinsam sei allerdings die eher enttäuschende Wirksamkeit hinsichtlich des erwünschten Umfangs einer Gewichtsreduktion.

Ein für die interessierten Zuhörer wichtiges Fazit des abendlichen Vortrags ließ sich anhand der Frage eines Teilnehmers ziehen: Hinsichtlich der eigenen Ernährung macht es wenig Sinn, auf Ideale zu schauen. Jeder Mensch hat einen eigenen Körperbau. Ein gesundes Essverhalten sei immer dasjenige, das Spaß macht. Ein paar Pfunde mehr seien nicht tragisch, solange die Psyche nicht darunter leidet. Die beste Lebensprognose hätten leicht übergewichtige Menschen, während die Untergewichtigen die geringste Lebenserwartung haben.

Die Psychologie der Ernährung und ihrer Folgen ist also ein weites Feld. Es eröffnet eine Vielzahl möglicher Betrachtungsweisen und zeigt, welche Schwierigkeiten die westliche Welt mit dem reich gedeckten Tisch hat, an dem sie täglich ihren Platz einnehmen darf.

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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