Der stille Tod – Wenn ein Suizid in das eigene Wohnumfeld dringt

2Bilder

Es war ein oft genutzter und deshalb gewohnter Weg, eine wichtige Verbindungsstrecke zweier Stadtbezirke, mit dem Fahrrad eigentlich fast immer nur in Eile zurückgelegt, weil Termine drückten und es hier ohnehin nicht viel zu sehen gab.
Auch gestern war es wieder knapp gewesen und die Baustelle, die diese Straße seit einer Woche für Autofahrer lahmlegte und dem Radfahrer auf dem Gehweg nur eine schmale Gasse ließ, ein zusätzliches Ärgernis.
Da sah ich ihn.
Vor vier Tagen war er noch nicht da gewesen, da war ich mir ganz sicher, weil er nicht zu übersehen war: der große Kranz aus bunten Sommerblumen mit der langen Schleife, befestigt am Geländer der hohen Brücke über diese vielen Bahngleise.
Angebracht an exakt der Stelle, an der das Gitter aufhört, das Dummheiten verhindern soll, ließen er und die ungezählten Kerzen auf dem Gehweg keinen Zweifel an der Botschaft zu. Sie war unmissverständlich und ließ meinen Termin mit einem Schlag klein und unbedeutend werden.

Das hier war kein Autounfall, weil seit Einrichtung der Baustelle vor ein paar Tagen auf dieser Strecke keine Autos fuhren. Hier an dieser Stelle hatte die dringend notwendige Sanierung der Verbindungsstraße durch Vollsperrung auf fatale Weise für jene Stille gesorgt, die ein Mensch brauchte, dessen Seele im Leben nicht mehr zur Ruhe finden konnte. Die Stille für den letzten Schritt, von dem er nicht abgehalten werden wollte, weil er nicht mehr konnte und keinen anderen Weg mehr sah.

Ich stieg vom Fahrrad und schob zu dem Kranz hinüber, so wie ich vor über einem halben Jahr mein Rad zu einem Mann geschoben hatte, weil er schon zwei Stunden lang an dieser Stelle stand und auf die Gleise starrte. Damals hatte ich nach dem Gespräch mit ihm dann doch die Polizei gerufen, weil ich nicht sicher sein konnte, ob er in suizidaler Absicht auf der Brücke stand. Diesmal half kein Reden mehr und keine Polizei.

Den Kranz nur einfach wahrzunehmen und daran vorbeizugehen, erschien mir angesichts der Botschaft, die das Leben außer Kraft setzte, nicht richtig. Ich blieb stehen, las den Aufdruck auf der Schleife und die letzten Grüße auf den Kerzen und schwieg. Dass die Räder des Getriebes still stehen konnten, zumindest das - so schien mir - war ich dem Anblick und dem Menschen schuldig, den ich nicht gekannt hatte und den ich dennoch sehr gut kannte, weil ich wusste, wie es in ihm ausgesehen hatte.

Da war man nun seit Jahren aktiv im Bündnis gegen Depression um Aufklärung bemüht, um dem Betroffenen zumindest die Last des mit der Depression verbundenen Versteckspiels abnehmen und war dennoch so machtlos gegen das erdrückende Wesen der Erkrankung, die sich um den Menschen legt, wie eine Krake, um mit schließlich immer mehr Tentakeln immer enger zuzudrücken, bis es dem Opfer nicht mehr möglich ist, sich aus den Fangarmen der Krankheit zu befreien.

Da sprach und mahnte man, dass Depression als Folge suizidaler Handlungen deutschlandweit rund 10.000 Mal im Jahr mit dem Tod des Betroffenen endet, um aufzurütteln und für Verbesserungen der Versorgung psychisch Kranker einzutreten. Immer war der Suizid dabei ein anonymer Fall gewesen und schien trotz der erschreckend hohen Zahl weit weg. Plötzlich aber war er da, hatte ganz in aller Stille quasi um die Ecke stattgefunden und konfrontierte mit der eigenen Ohnmacht.

Betroffenheit über den Entschluss des Herstellens von Endgültigkeit, Trauer über das Abhandenkommen des Wissens, dass es kein zweites Leben gibt, Hilflosigkeit, Beschämung, Fassungslosigkeit, Schuld, Stille und erdrückende Leere mitten im Leben. Der bunte Kranz drückte alles aus.
Warum hörte das Gitter an dieser Stelle auf?
Warum verliefen auf der anderen Seite der Brüstung Leitungen und Rohre, die betreten werden konnten, so dass es möglich war, doch dort zu springen, wo die Züge fuhren?
Warum verlief das Gitter nicht auf gesamter Brückenlänge?
Warum hatten sie an dieser Sicherung gespart?
Warum war niemand zur Stelle, als ein Mensch so tief im Tunnel erdrückenden Erlebens festsaß, dass es kein Zurück mehr gab?
Es gibt keine andere Antwort auf die Frage nach dem zermürbenden „Warum?“ als die des Wesens der psychischen Erkrankung und der individuell gespürten Tiefe der Verzweiflung selbst …

In der Zeitung hatte nichts gestanden, weil die Presse in der Regel nicht berichtet, wenn ein Mensch für sich allein den Freitod wählt, damit es nicht zu Nachahmungen kommt. So bleibt der selber vorzeitig herbeigeführte Tod ein stiller Tod und eine einsame Tragödie, während der Schmerz der Angehörigen und Freunde die Welt anhalten möchte.
Dabei ist nun aber gerade ein Suizid ein Aufschrei der zutiefst verstörten und verstummten Seele, der Gehör braucht. Wo er nicht publik wird, kann Gesellschaft nicht wahrnehmen und folglich auch nicht reagieren, um dringend benötigte Veränderungen anzustoßen.

Soll der Tod des unbekannten Menschen nicht sinnlos bleiben, der außerstande war, zu sprechen und dennoch etwas sagen wollte, muss er Beachtung finden können, damit zumindest anderen vielleicht noch frühzeitig geholfen werden kann.
Angehörige und Freunde haben durch den Kranz an der Brücke dafür gesorgt, dass ein Übersehen der Tragödie erdrückend innerer Konflikte nicht möglich ist. Danke, dass sie uns nachdenklich machen über die ungeheure Größe und Übermacht tiefster Verzweiflung und uns in unseren manchmal fragwürdigen Vorhaben und Wegen innehalten lassen.

Das nur temporäre Mahnmal wird im Gedächtnis bleiben, formuliert es doch die Frage, ob wir füreinander da sein können, wenn Hilfe nötig ist, und ob wir eigentlich die stummen Rufe derer hören, die außerstande sind, sich auszudrücken, weil das eigene Entsetzen über bodenloses inneres Erleben und Empfinden sich nicht in Worte fassen lässt?

Dieser Beitrag soll ein Nachruf auf den unbekannten Menschen sein, dessen endgültiger Schritt das eigene Leben abgeschnitten hat. Möge die gequälte Seele die Ruhe gefunden haben, nach der sie sich so sehnte.

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

12 folgen diesem Profil

7 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.