Literatur-Hotel-Preis 2011: Jess Geiger "Schafe zählen"

Jess Geiger (Mitte). Foto: Kunkel
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Kennen Sie Schlafstörungen? Nächtliches Gedankenkarussell? Da ich schon lange darunter leide, habe ich bereits alles, was helfen soll, durch. Hat aber alles nichts gebracht. Als gar nichts mehr geht, beschließe ich vor lauter Verzweiflung, Schafe zu zählen. Soweit ich mich erinnern kann, stehen die ziemlich ungeordnet, um nicht zu sagen, ziemlich chaotisch herum. Genauso wie meine. Sie bewegen sich ständig, gehen sofort einen Schritt nach rechts oder links, so-bald ich sie anvisieren möchte. Sie machen mir die Sache nicht leicht. Ich flehe sie an: „Es handelt sich hier lediglich um ein reines Fantasieprodukt von mir. Ihr sollt mir doch einfach nur dabei helfen, endlich einzuschlafen. Ist das denn so schwer?“ Ja, meiner Herde fällt es genauso schwer wie mir, zur Ruhe zu kommen. Irgendwie kann ich sie ja auch verstehen. Aber so wird das hier nichts, weder mit dem Zählen, noch mit dem Schlafen. Ich beschließe, dass es völlig egal ist, wie und wo sie sich befinden, ich weiß, dass sie da sind und basta. Damit sie endlich springen können, stelle ich mir zwei Pfosten aus Holz vor, zwischen denen ein Draht gespannt ist. Als ich mir die Pfosten näher begucke, stelle ich fest, dass sie aus Fichte-Tanne sind, aber immer, wenn ich Fichte-Tanne höre, muss ich an den Fünf-Wochen-Mann denken. Das war vielleicht eine Ge-schichte… Aber die gehört jetzt nicht hier hin, ermahne ich mich. Ich versuche also, mein Schafe brav eins nach dem anderen über den Draht springen zu lassen. Klappt auch ganz gut - erst mal. Bis Num-mer sieben komme ich, dann denke ich, ein kleines Lob könnte nicht schaden. Jetzt, wo es so gut läuft. Allerdings muss ich lange grübeln, wie sie denn nun heißen. Mir fallen höchstens drei Namen ein, die auch für Schafe durchgehen, so was wie Herta, Sofie und Schnee-ball. Ist das eigentlich bei Schafen genauso wie bei Kühen, dass die Nachkommen immer mit dem gleichen Buchstaben anfangen müs-sen wie die Mütter? Keine Ahnung, wüsste auch nicht, wo ich da jetzt nachfragen könnte, nachts um vier, unfähig, auch nur die Augen zu öffnen, aber fähig, mich um den Rest des Lebens um meinen Schlaf zu denken. Als ich endlich beschließe, das mit den Namen zu ver-gessen, nach dem Motto: Lass sie doch einfach nur springen und zähl sie, sehe ich, wie sich eins im Draht verfängt. Ich habe zwar keinen blassen Schimmer, das wievielte es ist, jetzt ist erst mal Be-freien angesagt. Als sich direkt danach das zweite verletzt, frage ich mich verwundert, warum sie eigentlich über Draht springen müssen und tausche ihn augenblicklich gegen eine Schnur aus Sisal aus. Aber auch darin verheddern sie sich hoffnungslos. Die armen Schäf-chen! Was müssen sie alles erleiden, bloß, damit ich sie zählen kann, um endlich einzuschlafen? Ich bin doch so müde … Ach Gott, jetzt zappelt sogar Schneeball in den Schnüren. Schneeball, eins der drei Schafe, das ich sogar mit Namen kenne. Und Schneeball würde ich unter tausenden erkennen! Liegt vielleicht daran, dass ihm ein Ohr fehlt. Das war eine ganz böse Geschichte, damals, mit diesem aufdringlichen Spaziergänger und seinem furchtbaren Hund. Nein, Hund kann man das nicht mehr nennen, Raubtier trifft’s eher. Als ich Schneeball aus den unendlichen Weiten der Sisalschnüre befreie, frage ich mich, warum sie überhaupt erst springen müssen? Denke nur ich so verkorkst, oder müssen andere Schafe bei anderen Schlafgestörten auch über irgendwas hüpfen? Und vor allem, über was? Kann man sie nicht einfach so zählen? Aber dafür bräuchte man zwei Hunde, damit nicht alles im totalen Chaos versinkt, und um mir die jetzt auch noch vorzustellen, mit Aussehen, Rasse und Na-men, womöglich noch mit einer kleinen Geschichte, woher man sie damals bekommen hat, vielleicht hat man den einen selbst groß ge-zogen oder als Welpe von der schrulligen Nachbarin gerettet, die ja schon lange als Tierquälerin bekannt war, nur hat nie jemand offiziell etwas gegen sie gesagt – nein, das überfordert mich jetzt. Eins ist klar: Schafe zählen ist nichts für mich.

Autor:

Caro Dai aus Essen-Werden

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