Nyltesthemden - ein Kindheitstrauma

Was hatte die damalige Werbung nur sich gedacht ?`Und was die Hemdenhersteller ? Absolut bügelfrei, zumindest die ersten Wochen noch weiß, und ein Tragekomfort, den man noch heute suchen muss, weil es ihn nie gab.
Ich war noch nicht lange in der Schule, trug also schon mal öfter lange Hosen. Und dazu musste am Sonntag oder zu feierlichen Geburtstagen, der eigene gehörte nicht dazu, ein weißes Hemd her. Und Anfang der 60iger Jahre war es der Verkaufsschlager schlechthin. Das Nyltesthemd mit den drei B´s. bügelfrei, billig, bescheuert zu tragen. Und alle trugen es, die Straße rauf und runter. In jeder Familie tauchte dieses Unding auf.

Schon das anziehen fühlte sich nach Plastik an. Es knisterte so komisch und es glitt so kalt und unpersönlich die Haut entlang. Und vor allem dann im Sommer. Wenn es warm wurde und die Haut Feuchtigkeit absonderte, dann klebte dieses Dingens an allen blanken Hautstellen unter dem Hemd fest. Sofort und unmittelbar. Selbst ein kurzfristiges hochzupfen endete wieder mit dem innigen Körperkontakt. Dadurch war man immer bewegungsbeschränkt und je nachdem, wo es festklebte, rutschte das Hemd dann aus der Hose, was ja noch unschöner aussah. Und wenn man noch mehr schwitzte, trat der Schweiß durch das Hemd direkt nach draußen. Und in Verbindung Nyltest und Schweiß verdreht jedes Iltisweibchen nach einer gewissen Zeit verzückt die Augen. Dieser Geruch...? So nach Iltis, so richtig nach Iltis...... Da half auch kein Pitralon in der preiswerten Literflasche, wenn es die denn in der Größe gegeben hätte. So wuchs man also eine gewisse Zeitlang gemeinsam auf. Diese Hemden waren es, die einem als Kind den Sonntag als den schlimmsten Tag der Woche ansehen ließen.

Damals, wenn im Winter dann der Wohnzimmerofen durch den Anthrazit angefeuert in der Marke um 26 Grad den Raum aufgewärmt hatte, war auch das Hemd entsprechend temperiert. Wobei diese Wärme heute von keiner Zentralheizung erreicht wird. Wenn ich mich zurück erinnere, wie kuschelig und angenehm wir damals nur im Schlafanzug abends durch das Wohnzimmer sausten ist diese Erinnerung wunderschön, mollig, kuschelig. Das ist etwas ,was die heutigen Heizung nicht erzeugen können. Und wenn, nicht so heimelig, sondern viel trockener. Unsere Wohnzimmer waren warm, aber nicht trocken warm. Das mußte dann reichen auf dem Weg zum Kinderschlafzimmer, welches damals noch ungeheizt war. Somit hatten im Winter die Eisblumen eine reelle Chance sich zu bilden. Dann ein Hechtsprung, die Restwärme mitnehmend unter das eiskalte Federbett, und 2-3 Minuten später war es auch unter dem Federbett dann schon wieder kuschelig warm. Umgekehrt der Weg am anderen morgen vor der Schule war es schon unangenehmer, dieses kuschelig und mollig-warme Federgetüm zu verlassen.

Und diese verdammten Hemden hatten die Eigenschaft, die Umgebungstemperatur sofort anzunehmen. Da wo wir wohnten, gab es drumherum ein paar Buden, die für den Nachschub an Bier, Zigaretten, Bild der Frau, Praline usw. sorgten. Und wir Kinder mussten natürlich immer los. Denn dazu waren wir ja da. Und im Winter war es an Sonntagen besonders schlimm. Man zog sich für die paar Meter doch nicht extra eine Jacke über. Aber es reichten sowieso Temperaturen von knapp über Null. Man trat mit dem wohnzimmerwarmen Hemd an die frische Luft und Peng, war das verdammte Dingens in Bruchteilen von Sekunden auch so kalt wie die Luft draußen.
Und irgendwann verschwand es dann endgültig vom Markt. Aber es hat meine Kindheit doch verdammt beeinflußt, dieses technische Mistdingens.

Autor:

Magnus A. Kremser aus Dorsten

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