Ruhrtriennale 2014: Le Sacre du Printemps / Das Frühlingsopfer

Romeo Castellucci: Le Sacre du Printemps - letzte Szene

Weltpremiere im Landschaftspark: Zeitgenössisches Ballett - das sind Maschinentänzer und eine Bühne voller Knochenstaub!

Wir erleben eine erschütternde, nachgehende Aufführung, die sich nur als harmloser "Tanz" verkleidet hat.

Der Aufführung zugrunde liegt das 1913 uraufgeführte Ballettstück mit der Musik von Igor Strawinsky - einst sorgte es für ablehnende Tumulte, heute zählt es zu den Epochenwerken der klassischen Moderne.

Der italienische Theatermacher Romeo Castellucci (geboren 1960 in Cesena) tritt an, das Stück in die heutige Zeit zu transformieren.
Castellucci liefert ein verstörendes Oeuvre, vielschichtig und mit metaphysischen Deutungsmöglichkeiten.

Die Tänzer werden ersetzt durch Wolken von Knochenstaub, der aus 40 beweglichen Maschinen in einer Deckenaufhängung rieselt. Strawinskys Klangmaschine bildet eine Aufnahme mit dem Orchester Music Aeterna aus Perm unter dem griechischen Dirigenten Teodor Currentzis. Das Orchester mit seiner rauen, drängenden und fordernden Interpretation des Stückes wird vom Band eingespielt.
Plötzlich hereinbrechende Klänge, treibende, sich überlagernde rhythmische Patterns, Wiederholungen in den Motiven - Castellucci übersetzt sie in rieselnden, kreisenden, herab donnernden und dann wieder wolkenartig aufsteigenden Knochenstaub.

Klar, das Ballett war schon immer Knochenarbeit, aber wieso gibt es jetzt nur noch Staubwolken zu sehen? Castellucci will das Stück auf seinen materiellen Ursprung zurückführen.

Knochenstaub, das ist das industriell behandelte tierische Material, welches in der Landwirtschaft als Düngemittel eingesetzt wird. "Aus Staub bis du gemacht und zu Staub wirst du vergehen" lehrt uns schon die Bibel. Knochenmehl ist das Motiv für Opfergabe und für Fruchtbarkeit gleichermaßen. Wir erleben Tanz als die Kollision von Schönheit mit der Brutalität der Opferung.

Castellucci sagt dazu, das Opfer ist die mythologische Achse, auf der dieses Stück beruht. Das Opfer, auf das Strawinsky anspielt, sei das archaische Menschenopfer.
Heute sei man fremd zu seinen Ahnen geworden, an die Stelle des alten Ritus sei das industrielle Tierschlachten in der Nahrungsmittelproduktion getreten.
In der Aufführung gedenke man der 75 Rinder, die um ihres Fleisches willen geschlachtet wurden und deren verarbeitete Knochen die Menge von 6 Tonnen Knochenmehl ergaben, welche für die Aufführung benötigt werden.

Während der einstündigen Vorstellung wandert mein Blick durch die Bühnenaufbauten, welche durch einen staubdichten Folien-Vorhang zum Zuschauerraum hin abgeschirmt sind. Die Gedanken folgen der Handlung, bemerken die exakt auf die Musik abgestimmt Choreografie der rieselnden und durch die Maschinenbewegung sich schlängelnden, quasi tanzenden Staubwolken.

Weißer Staub wird durch Licht sichtbar gemacht und tanzt im dunklen, durch schwarze Vorhänge begrenzten Raum - das erinnert an ätherische skulpturenhafte Lichtkunst. Und an eine Blackbox - das gesammelte Wissen der Menschheit und alle technischen Daten sind in dieser Box.

Die Gedanken kreisen weiter - Le Sacre du Printemps wurde 1913 uraufgeführt.
Die Farbe Weiß war schon in dieser Zeit, die später als die "klassischen Moderne" bezeichnet wurde, ein Thema. Der weiße Raum im Bild, das war damals neuartig, ein Zeit- und Raum-Kontinuum. Die Künstler fanden eine Möglichkeit in der Abgrenzung zum Farbigen die Ewigkeit, das Unendliche, das Nichts aber auch den Tod darzustellen.

Der Tod - wirklich nur der Rinder, der Opfertiere - oder vielleicht doch der Menschen?
1913 - das war am Vorabend zum Großen Weltkrieg.
Plötzlich erscheinen die Maschinen wie Tänzer mit plumpen Füssen, die versetzt wie im Gehen schaukeln. Erst ein Paar Füße, dann mehr, schließlich marschiert eine Truppe Maschinenfüße (oder Soldaten) im Gleichschritt unter der Decke. Knalleffekte in der Musik und zeitgleiches Abladen von Staubwolken lassen an Granateneinschläge denken.

Ich registriere, wie sich der Bühnenboden verändert - Hügel türmen sich auf, Täler entstehen, im Hintergrund bildet sich ein halbrunder Bergbogen. Die Bühnentechnik senkt sich herab wie ein Raumschiff, das auf dem neu entstandenen Planeten landet.

Nach dem Ersten Weltkrieg, der fast taggenau im August vor 100 Jahren begann, war nicht nur die alte Gesellschaft sondern auch die Landschaft wie verändert. Kraterlandschaften schufen eine neue Topografie, etwas was wieder aufzubauen, neu zu besiedeln war.
Die Aufführung verwendet 6 Tonnen Knochenmehl - damals waren es 600.000 Tote in Italien, und 6 Millionen Tote und Verwundete in Frankreich, und 6 Millionen Tote bei den alliierten Streitkräften.

Die Eindrücke korrelieren mit einer Musik, die an Schlachtenlärm denken lässt, ein letztes Gefecht scheint den neuen Planeten zu erobern. Es fallen Schüsse - das Publikum wird mit Salven von Knochenstaub gezielt beschossen. Dann ist die Welt befriedet - erst einmal ...

Arbeiter in Schutzanzügen räumen auf, sammeln die Überreste der Knochen ein, schaufeln den Staub zusammen. Das Alte ist überwunden, besiegt, nichts ist wie vorher, das Neue kann aufgebaut werden.

Das Stück endet ohne eigentlichen Endpunkt. Das Leben geht weiter, der Lebenskreislauf in der Natur geht weiter, Altes bildet den Nährboden für Neues, Kampf und Zerstörung und Wiederaufbau gehen weiter, ...

Der verunsicherte Zuschauer applaudiert zaghaft, lässt es wieder, findet es unpassend angesichts der Zerstörung.
Eigentlich ist es Bühnenkunst, aber vielleicht ist es ein Rückblick auf die letzten 100 Jahre, oder ein Ausblick ...? Wann endet das Stück, oder das eigene Leben, oder der Krieg? Ist das alles der Kreislauf der Natur? Geht es hier wirklich nur um das Gedenken an Schlachttiere?

Romeo Castelluccis molekularer immerwährenden Tanz des Universums lässt den Zuschauer verunsichert und mit kreisenden Gedanken auf sich selbst geworfen zurück.

Weitere Aufführungstermine sind am 19., 20., 21., 22., 23. und 24. August 2014.
Infos unter www.ruhrtriennale.de.

Autor:

Dorothea Weissbach aus Oberhausen

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