Buch über den Ruhraufstand 1920 in Gladbeck ist nun erschienen
Brachthäusers "Roter Terror"

Wissenswertes Hat bundesweit wieder intensiv in verschiedenen Archiven recherchiert und hat für sein neustes Buch "Roter Terror. Gladbeck in der Märzkrise 1920" auch viele bislang unbekannte Informationen zusammengetragen: Ralph Eberhard Brachhäuser.  | Foto: Rath
  • Wissenswertes Hat bundesweit wieder intensiv in verschiedenen Archiven recherchiert und hat für sein neustes Buch "Roter Terror. Gladbeck in der Märzkrise 1920" auch viele bislang unbekannte Informationen zusammengetragen: Ralph Eberhard Brachhäuser.
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Vor gut 100 Jahren versuchten in Berlin aufständische Militärs die junge Weimarer Republik zu beseitigen. In einem landesweiten Generalstreik brach der Staatsstreich schnell in sich zusammen. Es war der berüchtigte Kapp-Putsch. Vor allem im Ruhrgebiet entwickelte sich anschließend in einem linksradikalen Aufstand mit der Bildung der so genannten Roten Ruhrarmee ein furchtbarer Bürgerkrieg.

Mit einiger – den derzeitigen Umständen geschuldeter – Verzögerung ist nun ein umfangreiches Buch von 376 Seiten erschienen, das sich sehr eingehend den damaligen Vorgängen auf lokaler Ebene widmet. Autor Ralph Eberhard Brachthäuser kommt darin zu dem Schluss: einen Kapp-Putsch hat es in Gladbeck nicht gegeben, wohl aber die Herrschaft der Roten Ruhrarmee.

Brachthäuser ist studierter Kirchenhistoriker und war von 1998 bis 2010 letzter Pfarrer von Heilig Kreuz in Butendorf. Spätestens seit seinem Buch über die Frauen und Männer des ersten Gladbecker Stadtrates gilt er als ausgewiesener Kenner der Gladbecker Geschichte. Auf der Grundlage einer großen Fülle von Quellen und Dokumenten schildert er die Ereignisse im Frühjahr 1920. Bei seiner Recherche ist er wieder tief in die Vergangenheit eingetaucht, und es überrascht, wo überall er zum Thema „Gladbeck“ fündig wurde: natürlich im hiesigen Stadtarchiv und in den beiden NRW-Landesarchiven in Duisburg und Münster, aber auch im Bundearchiv Berlin, im Militärarchiv Freiburg, sowie im Preußischen Geheimen Staatsarchiv, ebenfalls in Berlin.

Entstanden ist eine detailreiche Beschreibung des Gladbecker Alltagslebens in diesen kritischen Wochen. Hervorgehoben wird sowohl das bemerkenswerte Zusammenstehen aller im Stadtrat vertretenen Parteien zu dessen Abwehr, als auch die Tatsache, dass sich weder in Gladbeck noch in dessen Umfeld Unterstützer des Berliner Umsturzversuches nachweisen lassen. Andererseits beleuchtet Brachthäuser aber sehr wohl die Hintergründe, warum gerade im Gladbecker Süden die heranrückende Rote Ruhrarmee so viele Unterstützer fand.

In vielen Facetten wird die Besetzung der Stadt durch die Aufrührer der Roten Ruhrarmee und ihre zweiwöchige Herrschaft beschrieben, in der sie die ein gutes Jahr zuvor demokratisch gewählten Gremien ausschalteten. Es ist zu lesen über die Bekanntmachung ihrer Ideologie, die sich ausdrücklich am Vorbild der Sowjetunion orientierte, aber auch über die Schwierigkeiten in der Bewältigung der alltäglichen Aufgaben, insbesondere der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln.

Ebenso ausführlich folgt eine Schilderung der anschließenden Kämpfe mit den herbeigeeilten Regierungstruppen, die deutlich umfangreicher waren, als bisher angenommen und vor allem im Bereich Brauck-Horst auf beiden Seiten viele Opfer forderten. Der Autor berichtet über die beiden Standgerichte, die es in Gladbeck gab und die insgesamt 15 Todesurteile verhängten sowie über deren juristische Aufarbeitung. Überraschend ist der offenbar breite Rückhalt in der Gladbecker Bevölkerung für die Soldaten, die ja der berüchtigten Marinebrigade Löwenfeld angehörten. Einen eigenen Blick wirft Brachthäuser auf deren Verwendung von Hakenkreuz und Marinekriegsflagge.

Sehr informativ liest sich in dem Abschnitt über die Entwicklung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im frühen Gladbeck ein Exkurs über den großen Bergarbeiterstreik von 1889. Damals waren in Gladbeck drei tote Arbeiter zu beklagen, als in der Dunkelheit 30 Soldaten auf mehrere hundert gewalttätige Demonstranten trafen. So detailliert sind diese tragischen Ereignisse bislang noch nie beschrieben worden.

Ein eigenes Kapitel widmet sich dem Aufbau und der Zusammensatzung der fast 400 Mann starken lokalen Einwohnerwehr, über die bisher gar nichts bekannt war. Sie bestand überwiegend aus Bergleuten, was in der Bergbaustadt Gladbeck nicht verwundert. Doch auch eine Reihe von Geschäftsleuten, darunter führende Köpfe der jüdischen Gemeinde wie Sally Daniel und Fridolin Zwillenberg, ließen sich bereitwillig als Mitglieder eintragen. Besonders bemerkenswert ist jedoch, dass Männer, die aus dem Ersten Weltkrieg als hochdekorierte Offiziere zurückgekehrt waren, sich nun „einfachen“ Bergleuten als den gewählten Führern ihrer Gruppen unterordneten. Zu ihnen gehörten auch führende Zechenbeamte wie Bergrat Heinrich Zix und Berginspektor Karl Spranck, beide von der Berginspektion 5 in Zweckel. Darin erkennt Brachthäuser einen deutlich sozialdemokratischen Einfluss bei der Errichtung der Gladbecker Einwohnerwehr. Ihr gelang es allerdings nur vorübergehend, die Stadt vor der Besetzung durch die Rote Ruhrarmee zu bewahren; letztlich musste sie einer zu großen Übermacht weichen.

In drei Anhängen werden Einzelaspekte einer konkreteren Betrachtung unterzogen. Dabei beschreitet vor allem der Erste Neuland. Er beschäftigt sich mit den Mädchen und Frauen, die sich in Gladbeck der Roten Ruhrarmee anschlossen. Insgesamt werden 15 von ihnen in Biogrammen und Kurzbiografien vorgestellt, die jüngste von ihnen war gerade erst 15 Jahre alt. Teils dramatische Lebenshintergründe wie auch die Motive zur Beteiligung werden thematisiert. War es für einige Frauen die pure Not, da sie sich nicht einmal Brot kaufen konnten, war es für andere Mitstreiterin die Aussicht auf Abenteuer und die Hoffnung, sich schöne Kleider leisten zu können.

Ein zweiter Anhang ist den beiden christlichen Arbeiterführern Georg Stieler und Franz Riesener gewidmet, die über Gladbeck hinaus eine bedeutende Rolle bei der Bewältigung des „roten“ Aufstandes spielten. Von Georg Stieler, der als Landtagsabgeordneter während der kritischen Tage zwischen Gladbeck und Berlin pendelte, stammt die Formulierung, die dem Buch seinen Titel gab: „Roter Terror“. Seine Karriere sollte noch weit über Gladbeck hinausführen. Im 2. Weltkrieg fand er sich sogar auf der berühmten „Weißen Liste“ der Amerikaner, auf der seit 1943 ungefähr 1.500 Deutsche zusammengetragen waren, die man für geeignet hielt, nach dem Ende des „Dritten Reiches“ beim demokratischen Neuanfang eingesetzt zu werden.

Ein letzter Abschnitt behandelt jene, die in Gladbeck während der Märzkrise ums Leben kamen. Basierend auf den amtlichen Akten werden insgesamt 36 Menschen in Biogrammen vorgestellt, die meisten Angehörige der Roten Ruhrarmee, darunter auch die 15 zum Tod verurteilten, aber auch zwei Soldaten und mindestens zwei Unbeteiligte, davon eine Frau. In drei Tabellen werden zudem die getöteten „Rotgardisten“ nach soziologischen Aspekten aufgeschlüsselt: nach Alter, Familienstand und Beruf.

Überhaupt legt der Autor einmal mehr großen Wert darauf, möglichst viele der genannten Personen über ihre Lebensdaten greifbar zu machen. Zwar ist dies nicht bei allen gelungen, dennoch bietet das Buch auf diese Weise auch einen Fundus für Familienforscher. Insgesamt werden weit über 300 handelnde Personen namentlich genannt. Ob es allerdings notwendig war, eigens darauf hinzuweisen, dass der Vater des späteren Gladbecker Oberbürgermeisters und Bundestagsabgeordneten, Hans Wuwer, zu den Aufrührern der Roten Ruhrarmee gehörte, mag dahin gestellt bleiben.

Zwar lässt Brachthäuser in seinem neuen Buch immer wieder Arbeiter und auch Aufständische zu Wort kommen, doch scheint letztlich eine Betrachtung aus der bürgerlichen Perspektive zu überwiegen, was vielleicht auch daran liegen mag, dass aus diesem Umfeld die meisten Quellen überliefert sind. Die Entscheidung darüber muss letztlich den Lesern dieser zweifelsohne aufschlussreichen und zugleich spannenden Lektüre überlassen bleiben...

Infos: Ralph Eberhard Brachthäuser: Roter Terror. Gladbeck in der Märzkrise 1920. Zugleich ein Beitrag über die Entwicklung öffentlicher Sicherheitsstrukturen im nördlichen Ruhrgebiet, Verlag Mainz, Aachen, 2020, 376 Seiten, 27 Abbildungen, ISBN 978-3-8107-0338-5, 19,80 Euro.

Erhältlich in Gladbeck: derzeit im Stiftshaus Gladbeck, gerne mit Widmung (post@stiftshaus.de oder Tel. 02043-789935) und nach dem Lockdown in der Gladbeck Information und im Stadtarchiv. Darüber hinaus zu bestellen in jeder Buchhandlung oder direkt beim Verlag.

Autor:

Uwe Rath aus Gladbeck

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