Das mœrs festival in einer Zeitkapsel
mœrs festival 2021: Das 50-Jahre-Jubiläums-Programm!

moersterclass: Lukas Döhler und Ron Stabinsky | Foto: Bernd Uhlen
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Es ist schon eine Tradition, dass sich der künstlerische Leiter Tim Isfort besondere Orte aussucht, an denen er die Festivalprogramme vorstellt. Das diesjährige Schauspiel fand an einem der belebtesten Orte in Moers statt. Mitten auf dem Königlichen Hof hatte das Team einen Pavillon aufgebaut und dort ging es: Hinunter in die Tiefe. Isfort brauchte für die neue Inszenierung einen Tunnel und erinnerte sich an seine jungen, wilden Jahre während und nach der Schulzeit. Unter der Uerdinger Straße gab es von 1972 an (Achtung, Gründungsjahr des Festivals!) eine Fußgängerunterführung. 1988 wurden die Eingänge zugemauert, aber nicht zugeschüttet. Ist der Abstieg mittels Bergrettungsgurten und Seilzug geschafft, findet sich dort tatsächlich ein 30m langer Gang mit einer Kurve und immer noch mit den Fliesen an den Wänden. Das war die richtige Location für die Vorstellung, die sich das Festival-Team ausdachte: Das Raumschiff „mœrs festival“ befindet sich in einer nahen Zukunft. Im Jahr 2040 blicken fünf Protagonisten der neuen Zeitrechnung in diesem „Time-Tunnel“ zurück auf das Jubiläumsjahr 2021. Im Tunnel gewinnt man den Eindruck, dies könnte auch eine verlassene U-Bahn-Station sein, an der die Mannschaft einstieg und mit der U-47441 in die Vergangenheit gefahren ist. Die Vergangenheit ist dunkel und muffig, an den Wänden Schaukästen aus einer Zeit, weit, bevor die Ära der Pandemie begann. In den Schaukästen hängen vergilbte Werbeplakate, auch vom damaligen Festival und Utensilien, die 2040 längst verboten sind: Bierflaschen aus Glas. Der Rückblick machte die Expeditions-Teilnehmer*innen fassungslos, es gab noch Staaten, es gab noch analoges Geld und Informationen las man von einem Stück Papier ab. Chinesisch hatte Englisch noch nicht als Weltsprache abgelöst und die Menschheit dachte, die Pandemie seit bald vorbei. Anschließend interessierten sich die Fünf für die Musiker*innen, die damals die noch freie Stadt Moers (2040 gehört Moers zu Groß-Düsseldorf) aufsuchten, um vor den Bürgern und den anreisenden Gästen live aufzutreten. Schließlich brachen die Zeitreisenden den Rückblick ab, Helena Lischka, Mark Rosendahl, Tim Isfort, Bürgermeister Christoph Fleischhauer und Wolfgang Thönes mussten zurück an ihre Arbeit, denn Arbeit gibt es im Jahr 2040 immer noch.

Am Pfingstmontag 2020, dem vierten Tag des Festivals, stand fest, dass das Organisationsteam um Isfort einen großartigen Job hingelegt hatte. Zum ersten Mal und weltweit wurde ein großes, renommiertes Jazzfestival komplett ins Internet verlegt. Weit über Einhunderttausend Zuschauer verfolgten das Streaming online und zeitversetzt, auch Monate später konnten die Konzerte auf ARTE Concert gesehen werden. Niemand in der Festivalhalle, weder von der Seite des Veranstalters noch von den Musiker*innen, dachten daran, dass die nächste, die 50. Ausgabe ebenfalls unter Pandemieumständen würde stattfinden müssen. Die Jubiläumsausgabe wollten Alle so feiern, wie sie 48 Jahre lang an Pfingsten gefeiert wurde: als großes Happening im Zelt, im Park, in der Eissporthalle, in der Festivalhalle und in der Innenstadt. Nun wird die Welt und damit auch Moers im zweiten Jahr von einer Seuche beherrscht, die jedes Leben einschränkt. Aber Moers wäre nicht Moers, wenn es nicht aufbegehren würde.

In monatelanger Gemeinschaftsarbeit entwickelten Isfort und seine Crew eine erweiterte Version des 2020er Festivals. Zusätzlich zu dem Live-Streaming werden Jazzfreunde die Möglichkeit bekommen, live in der Halle dabei zu sein. Die Anzahl ist begrenzt und jeder Interessent erhält ein Kontingent für bestimmte Konzerte. Hierzu wird eine Online-Anmeldung nötig. Zusätzlich werden im Schlosspark eine weitere Bühne und eine Video-Leinwand aufgebaut, auf der die Auftritte zeitgleich übertragen werden – auch hier wird es wohl eine Zuschauerbegrenzung geben. Die exakten Modalitäten zu den zu erwerbenden Tickets für die Festivalhalle sind auf der Website nach zu lesen. Die Website wird fortlaufend aktualisiert, so dass sich ein regelmäßiger Besuch der „moers-festival.de“ lohnt.

Das diesjährige Programm verspricht rasante Auftritte. Im letzten Jahr musste selbst die Woche vor Pfingsten noch am Spielplan improvisiert werden, da Musiker*innen doch nicht anreisen konnten. Aktuell kann Tim Isfort besser planen und Jazzer aus Nordamerika, aus Afrika, aus Südamerika und halb Europa einladen. Etliche, die 2020 absagen mussten, sind zuversichtlich zum Jubiläumsfestival am Start zu sein. Hier gilt es vor allem Paal Nilssen-Love mit seiner Großformation „Large Unit Ethiobraz“ zu nennen, der selbst nicht aus Norwegen ausreisen, dito seine Musiker*innen aus Afrika und Brasilien nicht in Deutschland einreisen durften. Der Altmeister David Murray, der zeitweise in New York und zeitweise in Paris lebt, wird ebenfalls nach einigen Jahren Moers-Pause mit seinem Trio auftreten. Murray wird wohl aus Paris kommen und Frankreich bildet auch insgesamt den musikalischen Schwerpunkt des Festivals. Die Auftritte wurden noch nicht terminiert, also weder Tag noch Stunde, da es wegen der ständig sich ändernden Pandemielage zu unvorhersehbaren Ereignissen kommen kann. Die Website bietet tagesaktuell den derzeitigen Stand zum Programm. Das Festivalteam will versuchen, vier Wochen vor Pfingsten die Tickets mit den Konzerten verlässlich anzubieten.

Der beliebte Marktplatz im Festivaldorf neben der Halle wird eröffnet und gleichzeitig aus Sicherheitsgründen erweitert. Um die Gesundheit und Hygiene jedes Besuchers sicherzustellen, werden Marktstände in den Park ausgelagert. Somit wird zwischen den Ständen für ausreichend „Luft“ gesorgt. Des Weiteren wird im Park noch mindestens eine weitere Spielstätte installiert, siehe 2018 und 2019, als sich jeden Tag Hunderte Besucher an der Schlossparkbühne die kostenfreien Konzerte anhörten.

Im Jahr 2008 schuf der damalige künstlerische Leiter Reiner Michalke die Position des „Improviser in Residence“, den eine Musikerin oder ein Musiker ein Jahr innehat. Während dieses Jahres lebt und arbeitet der/die Improviser in Moers, um zu komponieren, um Konzerte zu geben sowie in Schulen den Schüler*innen Musik unterschiedlichster Genres vorzustellen und verständlich zu machen. Das Jubiläumsjahr bietet nun ein Novum, zum ersten Mal ist es keine Einzelperson, sondern ein Duo. Matt Mottel und Kevin Shea waren bereits 2018 als Talibam! zu Gast in Moers. An Pfingsten sind Beide auch Teil einer spektakulären neuen Formation. Alle bisherigen Improviser treten gemeinsam als die „Große Kleine Allee Band“ auf – mit einer Ausnahme. Die Trompeterin Sanne van Hek, die Improviser 2010, starb letztes Jahr im April völlig unerwartet im Alter von 41 Jahren (Peace and Love im Improvisationshimmel, Sanne).

Trotz der einzuhaltenden Distanz sind die „composer kids/moersterclass“ wieder am Start. Junge Moerser stellen den Profi-Musiker*innen ihre Kompositionen vor und üben sie für einen Auftritt auf einer der Bühnen ein. Dieses Event entwickelt sich seit drei Jahren zu einem viel beachtenden Wettbewerb. In Filder Benden finden sich auch traditionell die Teilnehmer*innen der mœrs sessions ein, um in täglich wechselnden Formationen zu improvisieren.

Tim Isfort sagt, „Der Kampf um die Zukunft!“ hat begonnen – siehe Festival-Plakat. Diese Botschaft vermittelt, dass die heute Jungen morgen auch noch eine Zukunft haben möchten. Dass sie in 20 und 30 Jahren noch sauberes Wasser trinken und saubere Luft atmen möchten. Dass das Klima auch ohne Klimaanlage erträglich ist. Dass ein Leben ohne ständige Angst vor einer Krankheit Wirklichkeit ist. Dieser Kampf kann nicht erst im Jahr 2040 beginnen, er beginnt in der Jetzt-Zeit.

Klaus Denzer

moersterclass: Lukas Döhler und Ron Stabinsky | Foto: Bernd Uhlen
Eine Sängerin der Paal Nilsson-Love Large Unit Ethiobraz | Foto: mœrs festival
Autor:

Klaus Denzer aus Moers

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