Gedicht
Der kluge Rehbock

Foto: Franz B. Firla

Heute mal was aus dem Archiv, das vielleicht jahreszeitlich besser in den Frühling gepasst hätte. Damals jedenfalls.

Der Wald als Stätte holder Zweisamkeit, oder sachlicher gesehen: als Austragungsort sexueller Erstbegegnung, hat längst seine Führungsposition an das Auto abgeben müssen (Liegesitze!). Den wird es wegen seiner mobilen und jahreszeitenunabhängigen Eigenschaft wohl auch noch in seiner elektrifizierten Form beibehalten. Eine Verschiebung in Richtung Lastenfahrrad ist schwer vorstellbar.
Für meine Vatergeneration war das noch anders. Ich erinnere mich, wie mein Vater mir in einem Aufklärungsgespräch zu verstehen gab, dass ich mit meinen 13 Jahren noch zu jung sei, um „mit einem Mädel in den Busch zu gehen“. Wobei mit „Busch“ nicht ein einzelnes Gesträuch, sondern ein kompletter Wald mit allem Drumunddran gemeint war.
Dieses Bild muss ich wohl vor Augen gehabt haben, als ich 2003 das folgende Opus verfasste:

Der kluge Rehbock

Die Sonne fängt erst an zu steigen,
da steht ein Bock hinter den Zweigen
und schwankt noch leicht auf allen Vieren,
geschwächt von seinen Bockmanieren.

Grad will er sich zum Schlaf hinstrecken,
da packt ihn hart ein tiefer Schrecken.
Es nähert sich ein wildes Stöhnen,
es klingt verdächtig nach Verwöhnen.

Das Stöhnen wird nun immer lauter
und durch das Grün zu lugen traut er
sich, schon beinah wie ein Spanner,
doch nur vier Jogger sehen kann er.

Da ächzen Männer, schnaufen Weiber
ohne Verbindung ihrer Leiber.
Der Bock, der legt die Stirn in Falten:
das kann er nur für Bockmist halten.

Er weiß ja nichts von Glückshormonen,
mit denen Jogger sich belohnen,
aber noch von alten Rehen,
dass einst im Walde mehr geschehen

als Hochgeschwindigkeits-Spazieren,
um Körperfett zu reduzieren.
Da war noch Zeit zum Küssen, Kosen
im hohen Gras, auf weichen Moosen.

Jetzt gehn die Pärchen outfit kaufen
und fahren in den Wald zum Laufen.
Statt Kinder in die Welt zu setzen,
sieht man sie um die Fichten hetzen.

Der Rehbock hat genug gesehen
und spricht am Abend zu den Rehen:
Da läuft ein Volk in sein Verderben,
völlig gesund bald auszusterben!

Franz B. Firla

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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