Verdauung
Tischmusik damals und heute

Bild: Künstler: Michel Barthelemy Ollivier or Olivier, 1776

Hat man Sie eigentlich schon mal gefragt, welche Musik Sie zur Verdauung hören? So als Alternative zu Flohsamenschalen vielleicht? Ich meine mit „Musik“ jetzt nicht jene unliebsamen Töne und Geräusche, die den in Frage stehenden Prozess begleiten und sich oft nur schwer unterdrücken lassen. Trotz Kitschimea oder Aprilgold. Nein, auch nicht dieses launige Schmatzen und Rülpsen, das noch Martin Luther von jedem Verzehrenden, der es sich schmecken lässt, bekenntnisgleich einforderte. Nein, eher schon das Gegenteil. Früher nannte man es noch Tafelmusik. Die diente aber weniger der Verdauung als der Vertuschung und legte sich wie ein akustischer Schwamm über alles Unliebsame und Peinliche. Diese Tafelmusik ermöglichte jedem Verdauenden mit etwas Geschick, unbemerkt etwas Überdruck abzulassen, wobei die akustische Maskierung es gottseidank erschwerte, den olfaktorischen Kollateralschaden exakt zu personalisieren.
Leider wird all das in den verbalen und bildlichen Darstellungen gerne auf die unterhaltende Funktion verkürzt. Schauen wir auf das Bild: „Ein knappes Dutzend edler Damen und Herren in stattlichen Garderoben sitzt um eine reichlich gedeckte Tafel. Der Duft von gebratenem Geflügel liegt in der Luft, Diener balancieren aufgetürmte Teller und Platten durch den Raum und am äußeren rechten Rand sitzen drei Musiker: Mit Viola da Braccio, Viola da Gamba und Laute unterhalten sie die feine Gesellschaft.“ So erzählt es uns jedenfalls der Bayrische Rundfunk.
In der Tat, solche Musik wurde früher sogar von großen Musikern komponiert, obwohl sich immer mehr gegen solche Aufträge gesträubt haben sollen. Zurecht wie ich meine. Heute besteht solche „Entspannungsmusik“ meist aus elektronischem Tantra-Plomm-Plomm, das man geldsparend auf einem Keyboard in 5 Minuten selbst herstellen kann.
Nicht so in Freiburg. Dort werden auch in unseren Tagen „Lunch Concerts“ mit klassischer Musik angeboten. Wer es aber exotischer mag, kann im ostfriesischen Emden im „Anadolu“ vor dem obligaten Bauchtanz bei Bohnen und Hammelfleisch arabische Verdauungsmusik hören.
Doch zurück zur Tafelmusik des Barock und Rokoko. Viele überkandidelten Adeligen litten unter Misophonie und konnten ihre eigenen wie fremden Körpergeräusch nicht gut ertragen, waren andererseits aber auch nicht in der Lage, sie zu verhindern. Da war die Tafelmusik ideal, die das Schmatzen und Schlürfen usw. übertönte und bei der man sehnsüchtig auf das Tutti mit Pauken wartete, um dann unbemerkt etwas loswerden zu können.
Literarische Belege für Verdauungsmusik gibt es daher reichlich. Jeannine Meighörner schreibt in ihrem Roman „Wolkenbraut“: „Orlando di Lasso hatte eine Tischmusik komponiert. Eine heitere Motette zu jedem Gang stimulierte auch die Körpersäfte. Mein Herr bestellte gleich eine eigene Verdauungsmusik. Unermüdlich schwärmte der bayrische Hofmusikmeister mit einem Schwarm an Musikern, Solisten und Sängerknaben aus. Jede Belustigung wurde mit vier- bis achtstimmigen Motetten all’ italiana begleitet.“
In Christine Nöstlingers „Lilis Supercoup“ fordert der vollgefressene Knabe Marcel Mozart als Verdauungsmusik, wogegen sich der Mozart in Peter Dempfs biografischem Roman ausdrücklich dagegen verwahrt: „Ich mache Kunst, keine Musik für die Tafel. Wer mich kennen lernen will, muss zuhören, nicht Krammetsvögel essen, Wein trinken und einen Schwatz halten. Zum Essen werde ich keinesfalls spielen. Allenfalls nach dem Essen, ...“
Vom französischen Komponisten Lesueur wird Ähnliches berichtet; er trotzte erfolgreich den Wünschen des mächtigen Kaisers Napoleon Bonaparte. Man möge diesem bestellen, so ließ er verlauten, die ersten Komponisten des Landes seien wohl berufen vor dem Kaiser ein Konzert zu geben, aber nicht als „Verdauungsmusik“.
Das Vorstehende bestätigt mir als Kunstreund zu Genüge, dass hier kunstvolle Musik tatsächlich zu niederen Zwecken missbraucht werden sollte.
Ernst Ortlepp beklagt noch Mitte des 19. Jahrhunderts, in einer Zeit überbordender Hausmusik des Bürgertums, die Musikberieselung beim Essen als eine schlimme Manie. Man könne bald kein Butterbrot mehr ohne Musikbegleitung essen. Ein Tischgespräch (wie bei Luther F.F.) käme wegen der grassierenden Tischmusik überhaupt nicht mehr zustande.
Heute regelt das alles die Entspannungsmusik aus der Steckdose, wahlweise auch batteriebetrieben und individuell für jeden Teilnehmer der Tafelrunde über fast unsichtbare Ohrhörer.
Letztendlich darf ein aktuelles Musikangebot nicht unerwähnt bleiben: Spotify, wer sonst, bietet die richtige Musik für den ultimativen Verdauungshöhepunkt: „Musik zum Kac-en!“
Ich habe diese „Musik“ gehört, allerdings völlig zweckentfremdet auf dem Sofa. Sie hört sich an wie dieses Tantra-Plomm-Plomm und fördert nichts außer den Ärger über den Mist.
Ach nein, dann möchte ich doch lieber ein barockes Flötenkonzert von Telemann!

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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