Vor 50 Jahren: Als sich Mülheim-Ruhr noch auf Blumenuhr reimte

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Der große Zuspruch, den das Zorn-Foto der Blumenuhr in der Rubrik "Schnappschüsse" fand, hat mich an den eingängigen Song erinnert, den die Tanzband LIFE SHOW für die "Mülheimer Wochen" 1974 komponierte, dort vor riesigem Publikum spielte und auf Schallplatte veröffentlichte: Mölm boowenaan.

50 Jahre werden das im September sein.

Wer die Single nicht hat, kann sie auf youtube noch hören:
hier

Ich habe dort heute auch den weitsichtigen Text hinterlegt, Noten zum Selbermusizieren gibt's hier unten. Ich hoffe, die Autoren haben nichts dagegen!

Text und Musik: Schneider / Schröder ( Life Show) 1974

Mölm boowenaan
sseet dän aule Mann,
un wat soan aule Mölmsche kallt,
do üs all chudd wat draan.

1.Rathausturm und Blumenuhr,
Wasserbahnhof, Böötchen auf der Ruhr.
Für den Wandrer viel Natur
findest du in Mülheim - Ruhr,
findest du in Mülheim nur.

2.Neue City, alte Stadt,
Wolkenkratzer, Fachwerkhäuserpracht.
Kein Mensch hat daran gedacht,
dass man unser Mölmsch Platt
beinah ganz vergessen hat.

Wer sich für die Historie der Loblieder auf unsere Stadt interessiert, mag meine Darstellung von 2002 lesen:

„Us Möllem, dat wille wei lowe“

Loblieder auf unsere Heimatstadt

Loblieder auf unsere Heimatstadt, die gab es tatsächlich, und es gibt sie immer noch. Im Mölmsch- Platt-Kreis der VHS und beim Stammtisch „Aul Ssaan“ hört man sie nicht nur gelegentlich. Die Ssaanschen tragen ihr Herz bei fast allen Zusammenkünften auf der Zunge, wenn sie das in den siebziger Jahren für sie komponierte „Mülheim hat Saarn, und Saarn hat Herz“ anstimmen. In ihrem munteren Kreis lernte ich die ersten Heimatklänge kennen und steuerte mit meinen „Saarner Dorfspatzen“ eigene Hymnen bei, ehe ich nach älterem Mülheimer Liedgut Ausschau hielt. Fündig wurde ich an verschiedenen Stellen, besonders aber durch die Unterstützung von Herrn Hohensee aus dem Vorstand des Geschichtsvereins. Er machte mich auf eine Anfang der dreißiger Jahre erschienene Sammlung Mülheimer Lieder des nicht mehr existierenden Mülheimer Kobler-Verlages aufmerksam: Eine Fülle von Texten, aber leider keine einzige Note. Stattdessen nur die Angabe des bekannten Liedes, nach dessen Melodie der Mülheimer Text gesungen wurde. Bekannt mögen diese Melodien damals zweifellos gewesen sein. Heute sind die meisten in keinem Lieder buch mehr zu finden, und man muss schon wenigstens achtzig Jahre alt sein, um sich an manche noch erinnern zu können. Ich nenne hier nur „Laßt tönen laut“, „Es liegt eine Krone“ , „Strömt herbei ihr Völkerscharen“. Den verblassenden Spuren nachzugehen, damit nicht alles in
Vergessenheit gerät, darin sah ich zuerst die Aufgabe für einen Lied-Restaurator, der eben auch die Melodie in später noch nachzuvollziehenden Noten erhalten sollte. Dass man sich dabei indirekt die Geschichte der Stadt „ersingt“, weil man motiviert ist, die hinter den Texten liegenden stadtgeographischen und historischen Tatsachen zu prüfen und nicht umhin kommt, sich wenigstens ansatzweise auch mit Mölmsch Platt zu be-fassen, wurde mir erst mit zunehmender Materialfülle deutlich und gab den Bemühungen einen zusätzlichen Reiz.
Nach einem Aufruf in der Lokalpresse erhielt ich wertvolle Kopien aus Schulbüchern der Kaiserzeit und einige Briefe von Mülheimerinnen, die manche Erinnerung an ihren Musikunterricht und an Mülheimer Brauchtum schildern. Ein Geschichtsvereinsmitglied lieh mir sein altes Kommersbuch. Dies alles war für die musikalische Restaurierung äußerst wichtig. In besonders kniffligen Fällen musste dann das Freiburger Volksliedarchiv helfen, auf das ich auch durch Mitbürger aufmerksam geworden bin.
Ein Beispiel sei hier erwähnt. Die Melodie eines Textes von Heinrich Mühlsiepen ( 1836-1901) ist mit „Es hat die preußische Artillerie“ angegeben. Es gibt aber keine Melodie mit diesem Titel.Alle Klärungsversuche schlugen fehl, bis eine Mitarbeiterin des Instituts den Titel als Textzeile in einem Lied entdeckte, das auf die Melodie „O alte Burschenherrlichkeit“ gesungen wurde. Tatsächlich passt die Melodie zum Mühlsiepen-gedicht.
Die 43 Mülheimer Lieder, die bisher in Noten gefasst werden konnten, stimmen das Lob der Stadt über-wiegend mit fremden Tönen an. Das ist eine jahrhundertealte Praxis, aus der sich auch unsere Volkslieder mit ihren unendlichen Textvarianten entwickelt haben. Denn wer einen Jubeltext verfasst hat und möchte, dass alle anderen ihn gleich mitsingen, der nimmt eine bekannte Melodie. Das erlebt man heute noch auf jeder Geburtstagsfeier, wenn der Jubilar besungen wird. Neue Kompositionen sind da schon gewöhnungs-bedürftiger. Immerhin haben es einige Mülheimer versucht.
Allen voran August Bungert ( 1845 - 1915 ), der „Mülheimer Wagner“, wie man ihn scherzhaft nannte. Aber nicht das von ihm komponierte „Mölmsche Junges“ nach einem älteren Text des Dichters Wilhelm Dickmann ( 1836 – 1897 ), sondern eine einfachere Volksliedweise (Notenbeispiel 1) schallte noch Mitte des letzten Jahrhunderts häufiger aus den Gasthäusern: „Un alles wat van Möllem kümp, dat süpp, dat süpp, dat süpp!“ Neben den mündliche Bestätigungen für den Gebrauch eines Liedes gibt es erfreulicherweise aber auch schriftliche Zeugnisse für Aufführungen oder das Singen mit Bürgerbeteiligung durch erhalten ge-bliebene Programme und Textblätter von Hochzeiten, Betriebsfesten, Bürgergesellschaften und nicht zuletzt von der 100-Jahrfeier der Stadt 1908, bei der drei Lieder für den gemeinsamen Gesang vorgesehen waren:
1.„Mölmsche Junges“. Der abgedruckte Text deutet darauf hin, dass es sich nicht um eine Uraufführung der ein Jahr später in Noten erschienenen Bungert-Komposition handelte, sondern die schon erwähnte schlich-tere Melodie gesungen wurde. Neben der Trinkfestigkeit wird den Mülheimer jungen Männern vor allem Streitsucht und Schadenfreude attestiert, welches aber alles zusammen erst dem wunderbaren Heimatklang der mölmschen Sprache zur Geltung verhelfe.
2. „Frete mack Spaass“ ist die gesungene Speisekarte des alten Mülheims. Auf die Melodie eines Reserve-hat-Ruh-Liedes ( „Was blinkt so freundlich in der Ferne?“) erklingt das hohe Lied von „Hammeleck“
(Kartoffelsuppe-/Gemüsesuppe ), „Schniedeskurraasch“( Möhren und Bohnen durcheinander ) „Jan im Ssacke“ ( Graupen und Dörrpflaumen durcheinander ), „Bleine Feesch“ (rohe Bratkartoffel, gebraten) und noch weiteren mölmschen Leib- und Magengerichten. Wer sich mit Mülheimer Traditionen beschäftigen möchte, kommt deshalb an diesem Lied kaum vorbei.
3. „Ruhrlied“. Otto Inkermann schrieb 1848 das deutsch-nationale „Strömt herbei ihr Völkerscharen“, in dem er nach einem kurzen Rundblick über die Nachbarländer eindringlich den Wunsch äußert:„Nur am Rheine will ich sterben, nur am Rhein begraben sein.“ Das Ruhrlied ersetzt die Rheinromantik durch die Vorzüge der grünen Ruhr, an der eigentlich erst durch harte Arbeit in Bergbau und Stahlindustrie die Grundlage für die Stärke des Vaterlandes gelegt werde. Manche heute unerträglich martialischen Strophen von 1908, durch die damalige säbelrasselnde Politik des Kaiserreiches verständlich, wurden bereits in einer Fassung von 1931(!) weitgehend geglättet. Das Ruhrlied als Ruhrgebietshymne lenkte schon damals den Blick auf die größere Einheit, wobei auch in ausschließlich auf Mülheim bezogenen Liedern während des gesamten ersten Drittels des letzten Jahrhunderts vielfach der Rhein das große Vorbild blieb.

Wenn die gleichen Melodie gleich mehreren Texten als musikalisches Transportmittel diente, zeugt dies immer auch für deren Popularität zur jeweiligen Zeit. Dies gilt für das eben erwähnte „Strömt herbei ihr Völkerscharen“ ebenso wie für „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“, das viele für ein Volkslied halten, dessen Weise aber von dem Komponisten Friedrich Silcher stammt, welcher besonders bei Männerchören hoch im Kurs stand. Das Mundartlied “Mien Möllm“ ( Notenbeispiel 2) ersetzt „geht mir nicht aus dem Sinn“ aus dem Heine-Gedicht etwas profaner durch „ nie vercheete“ (nicht vergessen) und kontert das vage „ich weiß nicht“ mit einem stolzen „ick kenn“. Petrikirche, Krüzfeild ( Kreuzfeld ),Ssaan ( Saarn), Rathaus, Schloß Broich, Kahlenberg, Froschendiek ( heute Friedrich-Ebert-Straße ), Dudel, Siepelsrieg (Charlottenstraße) und Dill (Delle) lauten die vertrauten Stellen der Heimatstadt.
Der dichtende Schlossermeister Georg von der Dunk reiht Ende der zwanziger Jahre zur selben Melodie in „Möllem bowenan“ bereits Solbad, Stadtbad, Rathaus, Kraftwerk Styrum sowie Kahlenberg, Saalbau, Ruhrhafen und Flughafen zu einer Prunkreihe auf, welche die Nachbarn in Oberhausen und Essen ( bos-haft/scherzhaft als „Hunnen“ bezeichnet) vor Neid erblassen lassen sollte. Hier wie in weiteren ähnlichen Texten lässt sich deutlich der Einfluss der Ära des Oberbürgermeisters Lembke ( 1904 – 1928 ) spüren und der Weg Mülheims zur Großstadt quasi musikalisch mitverfolgen. Aber auch längst verschwundene Gaststätten wie der “Stockfisch“ ( bis zum 1.Weltkrieg) und der „Lust’ge Schneider“ werden gerühmt. Meistgenannter Erholungsort innerhalb der Stadtgrenzen ist der Kahlenberg. Und bereits 1910 schwärmt Paul Straesser von einer Hafenstadt Mülheim. Der Hafen aber wurde damals gerade erst geplant und erst 1927 eröffnet.

Hermann Ternieden wohnte in Saarn und war dort Korrespondent, später Handelsvertreter für die im Kloster ansässige Tapetenfabrik. Da er nicht nur dichtete - er hatte 1908 in einem Berliner Verlag 170 Gedichte herausgebracht - sondern auch eine schöne Stimme hatte, pflegte er Kontakte zu Männerchören. Hier traf er auf Carl (Pitter) Mons, Konrektor an der Eduardstraße, der Chorlieder komponierte und sie meist den Heukenschen Männerchören widmete. Heuken war Chordirigent und Mitglied der Mausefalle. Sein Enkel Manfred Mons, der sich heute in Mülheim um den Jazz-Nachwuchs verdient macht, kann noch einige davon im Original vorlegen. Leider aber nicht die Melodie zu Terniedens Gedicht „Mein Mülheim-Ruhr“.( Notenbeispiel 3). Diese ist nur in einer schwer lesbaren, notizartigen Skizze in einer älteren Ausgabe der Saarner Dorfglocke erhalten. Zweifelhafte Notierungen habe ich deshalb nach den Gesetzen der Harmonie korrigieren müssen. Die Melodie im Volkston unterstützt den Inhalt der Verse durch ihre wellenartigen Auf- und Abbewegungen. Ternieden kommt fast ohne Anleihen bei der Rheinromantik aus. Er macht seinen Stolz auf das Mülheim des Jahres 1929 an der Ruhr fest, die er wohl besonders in seinem geliebten Saarn genoss.
In den 50ern und 60ern ist der Rhein endgültig aus dem Blickfeld der Textdichter verschwunden. Dafür wird das Friesenlied „Wo die Nordseewellen“ adaptiert und Auberg, Witthausbusch, Wasserbahnhof, Blumenuhr,Petrikirche, Leineweberstraße und Solbad besungen, also weniger Prachtbauten als entspannendes Kurstadtambiente. Der einprägsame Walzer ist ein Versuch, die Kaiser- und Kommers-buchmelodien zu verabschieden, lässt aber beim Singen leider die Nordseewellen gedanklich immer an den Strand spülen. Nicht so das Lied des Buchhändlers Lothar Gnoth. Er schrieb 1970 „Mülheim, die Stadt meiner Träume“. Von Fritz Sauerbrey und später noch von Walter Ferschen wurde der Text auch in Mölmsch übertragen. Er nennt keine einzige Sehenswürdigkeit mehr. Wichtiger ist ihm die Anknüpfung an den Stadtslogan von der sympathischen Stadt, die sich nach seiner Auffassung trotz aller Modernisierung stets eine romantische Verträumtheit bewahrt habe.
Modern im musikalischen Sinne war Werner Schneider und die Gruppe „Life Show“ mit „Mölm boowenaan“ (Notenbeispiel 4), das unsere Stadt erstmals im Stil der Beatmusik besingt. Auf einer vielbeachteten schwarzen Single verewigte er seine Komposition 1974 anlässlich einer Mülheimer Woche. Altes Mülheim ( Fachwerk ) und Neue City ( Wolkenkratzer ) sowie die Pflege von Mölmsch Platt sind laut Text die Garantien dafür , dass der „aule“ Mann recht behält, der Mülheim immer schon über alles
(„boowenaan“) liebt.
Gisela Schild unternimmt in ihrem 1993 getexteten und komponierten Lied eine Werbetour durch
das grüne Mülheim. Hier werden Uhlenhorst, Haus der Begegnung, Witthausbusch, das Rumbachtal und die Rennbad Raffelberg dem Ortsfremden als „Schönes Mülheim an der Ruhr“ empfohlen. In die volksliedhafte Melodie lässt sich schnell einstimmen und dabei eine ebenso erholsame wie fröhliche Wanderung durch die Schönheiten der Ruhrstadt nachempfinden.
Ab 1992 stellten die „Saarner Dorfspatzen“, der Chor der Gesamtschule Saarn, eine Reihe von
neu komponierten Liedern bei der alljährlichen Aufstellung des Bürgerbaums öffentlich vor. Sie sind natürlich genau wie die von Hans Klapdor ( „Heimweh nach Saarn“ ) und dem Bergsteigerchor auf Saarner Verhältnisse abgestimmt und stellen u.a. das Kloster, die Düsseldorfer Straße, die Fachwerkhäuser, den Auberg und die Kirmes heraus.
Erfreulicherweise fanden sich im Archiv des Geschichtsvereins auch ältere Saarner Texte. Der „Kloumpe Klupp te Saan“, ein Karnevalsverein, dem auch Heinrich Mühlsiepen angehörte, lobte 1886 in heiter-ironischer Art die Gaslaternen im Dorf. Da erst 1887 von Broich aus Wasser- und Gasleitungen gelegt wurden, handelt es sich wohl um einen karnevalistischen Vorgriff. Immerhin gibt dieses Lied nach der Weise „Denn all die Schusterjungen“ einen Anhaltspunkt für eine Datierung der Aufstellung der ersten acht Laternen in Saarn wie man sie sonst in zeitgenössischen Unterlagen vergeblich sucht.
Neben solchen historischen Details aber zeigen die Loblieder, eingebettet in den Zeitgeschmack, vor allem ein sich wandelndes Bild der Stadt, so wie sie sich jeweils in den Köpfen der Bürger widerspiegelte.

Literatur:

1. Mülheimer Lieder - Druck und Verlag F.Kobler - Auerstraße
2. Eine Sammlung alter Mülheimer Heimat- und Volkslieder - Mölmsche Kringk
3. Meine Heimatstadt Mülheim an der Ruhr und ihre Sprache - F. Sauerbrey
4. Kloumpe Klupp te Saan – Fastnachtslieder 1886 – 1892
5. Das Saarner Liederbuch - herausgegeben vom Stammtisch "Aul Ssaan", 2000
6. Ssaansche Kall und Leedsches – herausgegeben vom Stammtisch „Aul Ssaan“, 2000
7. Mölmsche Lieder – herausgegeben vom Stammtisch „Aul Ssaan“, 2004

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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