Gänsehautmomente
Wie wir Hardering nach einem halben Jahrhundert wieder zum Sprechen brachten

Am spannendsten bei meiner Beschäftigung mit Mölmsch Platt war die Entdeckung der Tonbänder von Chird Hardering (1892 – 1967), unserem besten Plattlyriker, mit den von ihm eingesprochenen Texten seiner zahlreichen Gedichte, die er in „Innich, ssinnich, finnich“ 1954 veröffentlicht hat.
Die Entdeckung und Freilegung seiner Stimme habe ich vor ein paar Jahren wie folgt geschildert:
Datum: 7. Juni 2017. Ort: Medienzentrum der Stadt. Auf einigen alten Tonbändern aus dem Keller ihrer Mutter sollte nach Meinung von Hannelore Hardering, der Großnichte, die Stimme meines Mölmschen Lieblingsdichters zu hören sein.
Sie hatte zwar noch genau das Phillips-Tonbandgerät, das ihr Onkel Gerd benutzt hatte, aber es war leider defekt. Meinem alten Halbspur-Revox war auch nicht mehr zu trauen. Und so hatten wir die geheimnisvollen Bänder gemeinsam zum Medienzentrum der Stadt getragen.

Das erste Wort, das ich aus den ziemlich starken Nebengeräuschen erhaschte, war: „Lesung“. Es kündigte wohl die folgende Lesung seiner Gedichte an und ich dachte noch, dass er das nicht selbst sein könnte, denn ich hörte einen leichten rheinischen Akzent heraus. Nach dem noch verständlichen Wort „Lesung“ ging sein Audio-Selfie aber zunehmend in penetrantes Brummen über und wir ahnten schon, dass es nun sicher eine ganze Zeit dauern würde, bis es unserem Dichter dank der vordigitalen Medienkompetenz des Herrn Kummerfeld vergönnt sein würde, ein komplettes Gedicht auf Mölmsch Platt ohne eine gleichzeitig rückwärts erklingende Partymusik vorzutragen. Und dann würde sich evtl. herausstellen, ob er tatsächlich einen leicht rheinischen Akzent hatte.
Die Bänder widersetzten sich einem einfachen Abspielen auch deshalb, weil sie obendrein noch falsch zusammengeklebt, mittendrin verdreht oder komplett verkehrt herum aufgespult waren.
Wir verabschiedeten uns erst einmal etwas entnervt in der Hoffnung, die Engelsgeduld des Herrn Kummerfeld werde in Kooperation mit seiner epochenübergreifenden Medienkompetenz am Ende doch noch wenigstens ein paar authentische Dichtervorträge in das Zeitalter der Clouds und Sticks hinüberretten.
Hardering las seine Gedichte nicht etwa zum Zeitvertreib oder weil er sich gerne lesen hörte. In einem hochdeutschen Gedicht hat er begründet, warum er seinem Gedichtband ein „Hörbuch“ an die Seite stellen wollte. Dazu fielen ihm gar wilhelmbuschige Verse ein:

Doch ist es mit der Mundart so:
Man wird derselben nicht recht froh,
Weil der geschriebene, platte Laut
Oft, lautmäßig, daneben haut,
Wenn, in dem deutschen Alphabet
Für diesen Laut kein Zeichen steht.

Es ist schon immer so gewesen:
Was man falsch schreibt, wird falsch gelesen.
Um dieses Übel abzuändern,
Biet' ich auf folgenden vier Bändern,
Noch mal mein ganzes Repertoire
Akustisch und zwar lautecht dar.

Das war einerseits modern gedacht, andererseits nur logisch für jemanden wie ihn, der das Mölmsch Platt mit allen Mitteln, notfalls auch mit modernen, erhalten wollte. Sowohl die Lesung seines Gedichtbandes als auch die Aufnahmen mit den Erklärungen zum Wörterbuch wurden schließlich gefunden.

Eigentlich verdanke ich die Entdeckung des Nachlasses von Chird Hardering dem Lokalkompass Mülheim, also der „Mülheimer Woche“. Denn als ich mich auf die Internetsuche nach Angehörigen machte und auf gut Glück eine E-Mail an Hannelores Textilwerkstatt in Styrum schickte, schrieb sie zurück, dass sie mich vom Lokalkompass kenne und sich dort schon mal in einem Kommentar zu einem meiner Beiträge über Mölmsch Platt als Großnichte Harderings geoutet habe. Das hatte ich inzwischen zwar vergessen, aber es bildete nun einen entscheidenden Anknüpfungspunkt für den persönlichen Kontakt. Sie ihrerseits erinnerte sich bei unserem Gespräch dann wieder an den Karton im Keller ihrer Mutter, wo auch ein Wörterbuch drin gewesen sei und Tonbänder, die sie vor langer Zeit schon einmal gehört habe, aber wahrscheinlich auch leichtsinnigerweise mit Partymusik überspielt hatte.
Herr Kummerfeldt vom Medienhaus, Hannelore Hardering und ich waren dann wohl die ersten Menschen, die ihn nach seinem Tod wieder sprechen hörten.
Die digitale Sicherung einiger Tonbänder geschah zum ersten Mal Juni/Juli 2017. Wir brachten doe Bänder gemeinsam in das Medienkompetenzzentrum, hörten etwas mit rein. Die Dichterstimme war schon hinter Störgeräuschen zu erahnen, aber das würde man noch besser hinkriegen, sagte Herr Kummerfeldt. Vierzehn Tage später war es soweit.
Erwartungsvoll und mit einer Flasche Sekt voll sprudelnder Dankbarkeit holte ich an einem sonnigen Sommermittwoch den digitalisierten Hardering ab. Als ich die CD mit der Aufschrift „Lesungen aus eigenen Werken“ zu Hause hören wollte - ich hatte mir extra eine gute Tasse Kaffee eingeschenkt – erwarteten mich 70 Minuten ziemlich monotone Störgeräusche; von des Dichters holder Stimme indes fehlte jede Spur. Sollte Herr Kummerfeldt den Auftrag dahingehend interpretiert haben, dass er nur die Störgeräusche digitalisieren sollte?
Nein, ich wollte mir die Freude der stimmlichen Erstbegegnung aber nicht ganz vermiesen lassen. Da ich auch die Originalbänder mitbekommen hatte, hob ich meine alte Revox, auf dem noch ein Band eingelegt war, auf den Schreibtisch, schaltete ein und ließ das Band zurücklaufen, um ein Hardering-Originalband einzulegen. Es begann merkwürdig verbrannt zu riechen. Ich stoppte, und es roch noch stärker. Dann erlosch die rote Netzlampe und ich hielt es für besser, das Fenster eiligst aufzureißen und die alte Revox aus dem Raum zu entfernen. Wie gesagt, sie war nicht mehr wirklich betriebsbereit.
Dann trank ich den erkalteten Kaffee aus: Ich hatte ihn bald auch im übertragenen Sinne auf, denn Hardering blieb auch an diesem Tag für mich stumm.
Am nächsten Tag fragte ich bei Herrn Kummerfeldt an, ob er sich vielleicht einen Scherz erlaubt habe.
Nein, er habe die CD überprüft, es sei alles drauf. Allerdings habe er sie auf dem Rechner gehört, nicht auf dem CD-Player! Jetzt fielen mir gleichzeitig die Schuppen von den Ohren und ein Stein vom Herzen. Klar, es gibt Daten-CDs und Audio-CDs! Er hatte mir eine Daten-CD gegeben, was für eine weitere Bearbeitung ja auch sinnvoller ist.
Nach ein bisschen Nachbearbeitung mit Rauschminderung und Entfernung von Knackgeräuschen, die früher entstanden, wenn man das Heimtonbandgerät an- und ausschaltete, konnte ich am 06.07.2017 gegen 10 Uhr endlich meinen Dichter auch akustisch genießen. Ein Gänsehautmoment in Mölmsch Platt: Min Moodersprook! Nach einem halben Jahrhundert des Schweigens redete Hardering wieder. Und tatsächlich hat seine Stimme ein leichtes rheinisches Timbre und klingt heller als ich dachte. Zugleich aber war sie sehr modulationsfähig. Man muss auch bedenken, dass er die Aufnahmen mit etwa 70 Jahren machte. Die Art seiner Plattstimme erinnerte mich an meine Besuche in Velbert (Kopshoff). Vielleicht war dieser rheinisch-bergische Klang in der Teinerstraße ja vorherrschend.

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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