Blick in die Geschichte
Vor 100 Jahren begann die belgische Besatzung Schmachtendorfs

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Alle Einigungsversuche des Jahres 1922 waren erfolglos geblieben: Trotz rapide voranschreitender Hyperinflation in Deutschland hielten die belgischen und französischen Alliierten an ihren im Versailler Vertrag beschlossenen Reparationsforderungen und ihrer Sicht, dass Deutschland diesen nicht genügend nachkäme, fest und marschierten im Januar – trotz scharfer Proteste aus London, die diese Besetzung für ungesetzlich hielten – ins Ruhrgebiet ein, um ihren Forderungen auch sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Während bereits ab dem 11. Januar 1923 Oberhausen französisch und Sterkrade belgisch besetzt waren, stand ab dem 15. Januar 1923 auch das kleine Schmachtendorf unter belgischer Besatzung.

Wenngleich Belgier und Franzosen gemeinschaftlich in das Ruhrgebiet einmarschierten, war die Grundausrichtung beider Parteien unterschiedlich: Ging es den Belgiern vornehmlich um Reparationsleistungen in Form von Kohlelieferungen und Telegrafenmasten (für die auch in den Schmachtendorfer Wäldern zur Besatzungszeit kräftig gerodet wurde), wollten die Franzosen vor allem Präsenz zeigen und die Schaffung einer unabhängigen Rheinischen Republik forcieren, die künftig als neutraler Pufferstaat zwischen den einstigen Kriegsgegnern liegen sollte. Letzteres sollte auch durch die Schaffung einer eigenen Währung gelingen, über deren Idee auch der Oberhausener General-Anzeiger am 15. Januar unter dem Titel „Eine neue Münze?“ berichtete. Doch der „Rheinland-Taler“ gelangte nicht über das Planungsstadium hinaus.

Über den ausgerufenen Belagerungszustand wurde gleichenorts berichtet und der exakte Wortlaut sei nachfolgend wiedergegeben:

Bericht des "Oberhausener General-Anzeiger" über die Verordnung der Besatzungsmacht.
  • Bericht des "Oberhausener General-Anzeiger" über die Verordnung der Besatzungsmacht.
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Belagerungszustand

Um Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten und soweit als nötig die Beitreibungen vornehmen zu können, wird der Belagerungszustand über das ganze von französisch-belgischen Truppen besetzte Gebiet verhängt. Die deutschen Gesetze und insbesondere die sozialen und Arbeitergesetze verbleiben in Kraft. Der Acht-Stundentag bleibt grundsätzlich bestehen.

Die deutschen Behörden verbleiben im Amt und setzen ihre Tätigkeit unter den obwaltenden Umständen fort; sie haben den Befehlen, die ihnen von den Militärbehörden erteilt werden, unbedingt Folge zu leisten. Sie haben diesen Militärbehörden von sämtlichen wichtigen Ereignissen unverzüglich Bericht zu erstatten.

2. Aufrechterhaltung der Ordnung

Die öffentliche Ordnung darf unter keinen Umständen gestört werden. Die öffentlichen Ämter werden ihre Tätigkeit unter den obwaltenden Zuständen fortführen. Das Personal aller Ämter hat in seiner Stellung zu verbleiben. Jede Sachbeschädigung wird strengstens bestraft.

3. Polizei

Die deutsche Polizei wird weiterhin die Ordnung innerhalb der besetzten Zone unter der Verantwortung der deutschen Verwaltungsbehörden aufrecht erhalten. Bis auf weiteres wird keine Änderung am Bestand und der vorschriftsmäßigen Bewaffnung der Polizei vorgenommen.

4. Nachweis der Personalien

Jede Person muss ihre Personalien durch einen Personalausweis oder durch ein sonstiges gleichwertiges Ausweispapier nachweisen können.

5. Verkehr

Im Prinzip der Verkehr Tag und Nacht. Der Straßenverkehr, der Personen- und Frachtverkehr auf den Eisenbahnen, werden wie bisher aufrecht erhalten, jedoch unter dem Vorbehalt besonderer Verfügungen, die durch eine diesbezügliche spätere Verordnung erlassen werden.

6. Presse

Die Zeitungen werden weiterhin unbehindert erscheinen. Jeder Artikel, der zur Ruhestörung auffordert oder der die Ehre der französisch-belgischen Truppen verletzt oder deren Sicherheit gefährdet, zieht die Verfolgung der verantwortlichen Personen durch ein Kriegsgericht nach sich. Dieselben Bestimmungen gelten für Flugblätter, Broschüren, Theater- oder Kinovorstellungen.

7. Post-, Telegraphen- und Telefonwesen

Der Post-, Telegraphen- und Telefonverkehr bleibt bis auf weiteres unbehindert bestehen.

8. Waffen und Munition

Sämtliche Waffen und Munitionen, die im Besitz der Zivilbevölkerung sind, müssen den Gemeindebehörden übergeben werden. Letztere haben den Besatzungsbehörden ein Verzeichnis hierüber zu liefern. Pulver- und Sprengmittellager jeder Art oder Menge sind gleichfalls durch die Gemeindebehörde der Besatzungsbehörde zur Kenntnis zu bringen.

9. Strafbestimmungen

Jede schwere Übertretung der Militärgesetze oder der vorliegenden Verordnung wird kriegsgerichtlich verfolgt. Weniger schwere Übertretungen haben Gefängnis- oder Geldstrafen zur Folge.

10. Vorstehende Verordnung

tritt mit ihrer Veröffentlichung in Kraft. Die Verfügungen, die sie vorschreibt, können, falls es die Lage erfordert, verschärft werden.

Die Verordnung wird ergänzt durch den Aufruf des kommandierenden Generals:

„In Anbetracht der von der Reparationskommission festgestellten, von Deutschland begangenen Verfehlungen in den Holz- und Kohlenlieferungen haben die französische und belgische Regierung auf Grund des Versailler Vertrages beschlossen, eine Kontrollkommission von Ingenieuren nach dem Ruhrgebiet zu entsenden und diese Kommission mit der nötigen Vollmacht ausgestattet, um Deutschland zum Respekt der übernommenen Verpflichtungen zu veranlassen. Die italienische Regierung hat ebenfalls beschlossen, italienische Ingenieure an dieser Mission teilnehmen zu lassen. Das von der französischen und belgischen Regierung verfolgte Ziel ist durchaus friedlich. Durch Entsendung dieser Mission bezwecken sie keineswegs eine militärische Operation oder eine Besetzung politischen Charakters. Nur die zum Schutze der Mission und zur Sicherung ihrer Tätigkeit notwendigen Truppen werden in das Ruhrgebiet einrücken. Das tägliche und gewohnte Leben der Bevölkerung ist keiner Störung und keiner Veränderung ausgesetzt, die Arbeit kann ungehindert in aller Ruhe weitergeführt werden. Die deutschen örtlichen Behörden werden ersucht, die Arbeit der Mission und die Unterbringung der zu ihrem Schutze bestimmten Truppen zu erleichtern. Die französische und belgische Regierung rechnen in dieser Beziehung auf den guten Willen sämtlicher Behörden. Sollten jedoch die Tätigkeit der Beamten der Mission und die Unterbringung der sie begleitenden Truppen irgendwie gehindert werden, oder sollten etwa die örtlichen Behörden, sie es durch die Tat oder durch passiven Widerstand, das materielle und wirtschaftliche Leben des Gebietes stören, so würden sofort alle nötigen Zwangsregeln und Sanktionen ergriffen werden. Die französische und belgische Regierung hoffen bestimmt, da die Vernunft und der gesunde Verstand der Bevölkerung, besonders der Arbeiterklassen, derartige Maßregeln überflüssig machen werden und dass die Beziehungen zwischen ihren Beamten und den Einwohnern sich im Ruhrgebiet ebenso gut gestalten werden, wie in den linksrheinischen besetzten Gebieten.“

Reichskanzler Wilhelm Cuno rief die Bevölkerung als Reaktion auf den Einmarsch zum passiven Widerstand auf. Auch in unserer Stadt wurde auf den Einmarsch mit scharfem Protest regiert: Die Stadtverordneten der Städte Oberhausen und Sterkrade beschlossen einstimmig Protestnoten, die Geschäfte wurden als Zeichen sichtbaren Protests halbtags geschlossen, am 15. Januar im Stadtgebiet für eine halbe Stunde jegliche Arbeit niedergelegt.

Während Sterkrade das Hauptquartier der belgischen Besatzungstruppen wurde, führte die Besatzung in Schmachtendorf vor allem auch zu logistischen Problemen, denn für die Einrichtung der belgischen Kommandantur und der Besatzungssoldaten waren kaum Unterbringungsmöglichkeiten vorhanden. Hauptmann Vanniesbecq wurde mit seiner Truppe in der Gaststätte Schlagregen einquartiert, weitere in den Lokalen Möllmann, Fandel und Gerlach. Als im April weitere Soldaten eindrückten, wurden auch Schulen belegt, wodurch weder Unterricht, noch die tägliche Zubereitung der Quäkerspeise (die für viele Kinder die einzige warme Mahlzeit am Tag war) stattfinden konnten.

Rechnung aus dem Jahre 1925, auf dem die Quartiere der belgischen Besatzer genannt sind.
  • Rechnung aus dem Jahre 1925, auf dem die Quartiere der belgischen Besatzer genannt sind.
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Schlagartig änderte sich das Leben für die Zivilbevölkerung. Was vorher noch selbstverständlich war, wurde den Schmachtendorferinnen und Schmachtendorfern von einem auf den anderen Tag per Anordnung durch die Kommandantur verboten und mit Strafen, die im weiteren Verlauf der Besatzung im Jahre 1923 noch verschärft wurden, geahndet, so unter anderem:

- Das Benutzen von Kraftfahrzeugen, Omnibussen und Straßenbahnen (am 16.8.1923 wegen „korrekter Haltung der Bevölkerung“ für Omnibusse, Straßenbahnen und Lastwagen wieder aufgehoben).
- Der Ankauf und Besitz von der Besatzungsmacht verbotener Zeitungen.
- Die Einnahme einer „feindseligen Haltung gegenüber den Besatzern“.
- Betreten der Sperrzonen (andernfalls Schusswaffengebrauch).
- Ansammlung von mehr als 6 Personen in der Nähe der belgischen Unterkunft (andernfalls Schusswaffengebrauch).

Ab 1. Juni 1924 waren alle Bewohner über 16 Jahren darüber hinaus verpflichtet, ihren Personalausweis, der ständig mitzuführen war, auf dem Polizeirevier mit dem Vermerk „Territoires Occupés“ (dt. „besetzte Gebiete“) stempeln zu lassen.

Insgesamt wurden in den ersten beiden Besatzungsjahren im Bereich der Kommandantur vom belgischen Besatzungsgericht 707 Strafen gegen deutsche Staatsangehörige verhängt. Zu den prominenten lokalen Opfern gehörten der Sterkrader Bürgermeister Dr. Heuser, der nach Abfassen von Protestschreiben aus seiner Stadt ausgewiesen wurde und der Sterkrader Beigeordnete Behrens, der wegen „Widerstandes gegen die Besatzungsmacht“ sechs Monate im Anrather Gefängnis saß.

Eingabe des Sterkrader Oberbürgermeister Dr. Heuser zu den Anordnungen des belgischen Kommandanten.
  • Eingabe des Sterkrader Oberbürgermeister Dr. Heuser zu den Anordnungen des belgischen Kommandanten.
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Zusammengerechnet beliefen sich die Geldstrafen auf 121.735.000 Mark (oder 3.194 Goldmark) und die Freiheitsstrafen auf 104 Jahre, 5 Monate und 25 Tage. Alleine der Besitz einer verbotenen Zeitung wurde beispielsweise mit einer sofortigen Freiheitsstrafe von 9 Monaten belegt. Auch wurden die Sperrzonen willkürlich ausgelegt – und dadurch auch auf Menschen geschossen, deren einziges Vergehen es war, auf dem Bürgersteig statt auf der Straße zu laufen.

Erst am 20. Juli 1925 war die Besatzungszeit in Schmachtendorf wieder beendet.

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Quellen:
- General-Anzeiger für Oberhausen, Sterkrade, Osterfeld und das nordwestliche Industriegebiet, Januar 1923
- Hamborner Volks-Zeitung, Januar 1923 bis Juli 1925
- Oberhausen ’88, Jahrbuch der Stadt Oberhausen, 1987
- French occupation of Ruhr, 22 January 1923, National Archive of His Britannic Majesty’s Government
- Éric Bussiére, La France, la Belgique et l’organisation économique de l’Europe 1918-1935, Paris: Institut de la gestion publique et du dévelopement économique, 1992
- Archiv Verein für Verkehr und Heimatkunde Oberhausen-Schmachtendorf e.V.

Autor:

Tobias Szczepanski aus Oberhausen

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