DAS 9 EURO TICKET
EIN ERFAHRUNGSBERICHT

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Jetzt ist der erste Monat nach dem 9 Euro Ticket fast um, und ich komme endlich dazu meinen Erfahrungsbericht darüber fertig zu schreiben.

Viele Menschen aus meinem Umfeld haben mich im Vorfeld gefragt, warum ich mir das Ticket zulegen wollte. Es gab Reaktionen wie "Jeder Idiot kauft sich so ein Ticket. Die Züge werden wegen Überfüllung nicht fahren können." oder "Die Züge werden so voll sein. Da steckst du dich mit Corona an. Lass es lieber bleiben."

Ich habe mir trotzdem das 9€ Ticket gekauft; im Juni, im Juli und im August. Ich wollte einfach mal raus, wollte Kurztrips machen, Städte und Orte erkunden, wo ich noch nicht war, fotografieren, etwas Schönes sehen.

Ja, und ich habe so einiges erlebt: Menschen, Züge, Sensationen sozusagen. Ich nehme euch mit auf meine kleine Reise durch den 9€ Ticket Kosmos:

Menschen:
Davon gab es logischerweise einige bei meinen Ausflügen. In Bussen, in Zügen, am Bahnhof,...
Und einige von ihnen durfte ich mit allen Sinnen "genießen". Da gab es die z. B. die "übrig gebliebenen Party-People von letzter Nacht", die morgens nach dem Feiern mit dem Zug nach Hause wollten und nicht nur den Geruchssinn der Mitreisenden auf eine harte Probe stellten. Auch akustisch gab es einiges zu verarbeiten; von der Lautstärke über Schimpfwörter bis hin zu richtig heftigen Schimpfwörtern.
Erwähnenswert sind auch die Menschen, die scheinbar alle den gleichen Vornamen haben: "Alter".
In jedem Satz kommt diese Anrede vor. "Ey Alter, weißt du was mir gestern passiert ist?" "Was machen wir morgen, Alter?" "Alter, hast du ein Kaugummi für mich?"........
Ein junger Mann und eine junge Frau saßen mir etwa 30 Minuten gegenüber. Wenn ich für jedes "Alter" während dieser Zeit einen Euro bekommen hätte, hätte ich mir 9€ Tickets bis Oktober 2024 leisten können.
Hier wurde sogar das inzwischen so wichtige Gendern missachtet. Ich will nicht klugscheißern, aber wenn wir mal ganz korrekt sind, hätte sie "Alte" und nicht "Alter" genannt werden müssen.

Ja, ich bin mit vielen Menschen ins Gespräch gekommen. Und oftmals gab es ein bestimmtes Thema "Die Verspätungen der Züge". Eine sehr nette Frau erzählte mir, dass sie Angst habe, ihren Job zu verlieren. Seit über einer Woche gäbe es jeden Tag Verspätungen. Sie nehme schon frühere Verbindungen und dennoch komme sie immer auf den letzten Drücker bzw. zu spät am Arbeitsplatz an. Nachmittags, wenn sie Feierabend habe, sei es das gleiche Spiel: Verspätungen ohne Ende. Während sie am Bahnhof oder im Zug festhängt, warten zuhause Kinder und Haushalt.

Und dann war da noch die Begegnung mit dem älteren Herren am Bahnsteig, der trotz warmer sommerlicher Temperaturen in langärmeligen Oberhemd, Pullover, Krawatte und Jacke gekleidet war. Stolz erzählte er mir, dass er sich das 9€ Ticket gekauft habe. Die regulären Fahrkarten-Preise seien für ihn zu teuer. Aber mit dem vergünstigten Ticket habe er heute einen Ort besucht, wo er schon seit über 20 Jahren nicht mehr war. Dort habe er sich draußen an einem Café hingesetzt und sich eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen gegönnt. Der Mann war glücklich. Glücklich und viel zu warm angezogen. Vermutlich hatte er sich für dieses Erlebnis so "rausgeputzt" mit Krawatte und Co, weil es für ihn so bedeutend und voller Erinnerungen war. Ohne das 9€ Ticket hätte er diesen Ausflug wahrscheinlich gar nicht mehr gemacht.

An den Bahnhöfen und in den Zügen gab es auch recht viele der sogenannten "Flaschensammler", die mit Tüten und Rucksäcken ausgestattet die liegengebliebenen oder weggeworfenen Pfandflaschen einsammelten. Das zu beobachten finde ich ja jedes Mal sehr beklemmend und traurig. Menschen, die sich über jede leere Flasche oder Dose freuen, weil ihnen einfach das nötige Geld zum Leben fehlt.
Und damit tun sie auf der anderen Seite ja auch noch etwas Gutes für die Allgemeinheit, in dem sie beispielsweise die Züge von Leergut befreien, das andere Reisende einfach als Müll auf den Sitzen, auf den Tischen oder in den Gängen haben liegen lassen.

Meine persönliche "Prüfung" war eine Fahrt mit zwei Influencerinnen, für die die Maskenpflicht offensichtlich nicht galt. Mit Maske hätte man ja auch nicht ihren Kussmund sehen können, den sie alle fünf Minuten bei einem Selfie Richtung Handykamera reckten, um anschließend zu posten, dass sie noch im Zug sind. Beide waren in ihren Badelatschen auf dem Weg zu einer Beachparty am Abend, die eine von ihnen aufgrund eines Mückenstiches am Bein schon fast abgesagt hätte. Sie vermutete, dass es sich um eine genmanipulierte Mücke gehandelt haben müsse, da der Stich so weh tun würde. Zuhause sprühe sie sich erst mal Desinfektionsmittel auf die Stelle, um die Schmerzen zu lindern.
Die weiteren Gesprächsthemen der Beiden waren nicht unbedingt ein kulturelles Highlight; im Gegenteil. Ich fragte mich, wo die versteckte Kamera war.
Diese Fahrt hat mich jedenfalls nach all den Jahren noch mal bestätigt, wie wichtig es war in der Schule gut aufzupassen.

Die Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe:
Während meiner ganzen Fahrten wollte nur eine Kontrolleurin mein 9€ Ticket mit dem Personalausweis vergleichen. Alle anderen hatten dazu keine Zeit. Und ich glaube in einigen Fällen auch keine Lust. Es ist auch teilweise unmöglich, sich als Kontrolleur einen Weg durch die vollen Gänge zu bahnen und zu kontrollieren: Menschen, Koffer, Kinderwägen und kein Durchkommen.

An fast jeder Haltestelle gab es eine Durchsage, weil die Türen des Zuges sich nicht schließen konnten, da die Menschen zu dicht am Ausgang standen. Die Ansagen waren immer in freundlichem Tonfall, was ich bemerkenswert finde, weil die Reisenden es einfach nicht verstanden oder ignorierten. Ich als Mitreisender ärgere mich ja schon, wenn der Zugführer fünf Mal hintereinander die Menschen bittet von der Tür weg zu treten, da diese sonst nicht schließen kann und manche es immer noch nicht verstanden haben und nichts mehr geht.
In einigen Ansagen schwang etwas Ironie mit:
"Liebe Freunde der Bahn und alle, die es noch werden wollen. Bitte treten sie von den Türen weg. Diese können sonst nicht schließen."
"Verehrte Fahrgäste, ich habe in fünf Stunden Feierabend. Es wäre schön, wenn sie bis dahin die Türen schließen und wir weiterfahren würden."
Viele Menschen regen sich oftmals über die Verspätungen der Züge auf, dabei sind wir mit unserem Verhalten mit ein Grund, warum das so ist.
Neben dem Erinnern, die Tür frei zu machen, gab es auch immer wieder eine Erinnerung an die Maskenpflicht, an die sich nicht jeder hielt. Und das trotz Hinweisschildern und Durchsagen.

Ich glaube, die "9€ Ticket Monate" waren eine richtig harte Zeit für die Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe. Ich hätte nicht mit euch tauschen mögen. Ich kann für mich sagen, dass ich immer nur an freundliche Mitarbeiter geraten bin. Danke dafür.

Verspätungen, Ausfälle und andere Katastrophen
Davon gab es einige. Der Ausgangspunkt meiner Ausflüge war überwiegend Holten Bhf.

Leider hielten dort eine ganze Zeit keine Züge. Es gab zwar den Schienenersatzverkehr, der aber überhaupt nicht ausgeschildert war. Es gab keine Hinweistafeln oder Schilder, wo die eingesetzten Busse hielten und auch keinen Fahrplan, wann sie abfuhren.
Verspätungen gab es in der Regel immer. Und wenn der Zug mal pünktlich war, so kam er doch nicht im regulären Zeitplan am Ziel an, da es wie oben schon beschrieben Zeit kostete, weil die Menschen die Türen nicht frei machten und der Zug somit länger als geplant am Bahnsteig stand.
Manche Züge fielen auch aufgrund technischer Störungen ganz aus.
Sitzplätze gab es trotz Öffnen der ersten Klasse einfach zu wenig. Fuhr der Zug ab Oberhausen Hbf ab, war es in der Regel kein Problem einen Platz zu bekommen. Aber schon beim nächsten Halt Duisburg Hbf bekamen nicht mehr alle Mitreisenden einen Sitzplatz.
Irgendwie blieben meine Augen bei den langen Fahrten an den Zugsitzen haften. Wer bitte hat die designt? Ich versuchte ein wiederkehrendes Muster auszumachen, aber das gab es an den Rückenflächen nicht. Und die Sitze nebeneinander hatten auch nicht den gleichen Aufdruck.

Was hat man sich dabei gedacht? Soll das irgendetwas darstellen oder symbolisieren? Keine Ahnung, aber erschreckend, was man sich alles für Gedanken während einer Zugfahrt machen kann.

Dann kam es auch vor, dass an Bahnhöfen einige der Auf- und Abgänge gesperrt waren. Menschen, die vom Gleis runter wollen, benutzen die gleiche Treppe wie Menschen, die auf das Gleis wollen. Keiner geht zur Seite, jeder will der Erste sein und alle meckern. Das war teilweise wie ein Standbild im Fernseher. Nichts ging mehr.

Mein persönlicher Tiefpunkt war aber meine "WC-Pilgertour" im Zug. Am Oberhausener Hbf angekommen, stieg ich in den Zug und wollte erst mal das WC aufsuchen, da ich schon eine Zeit lang unterwegs war und zur Toilette musste. Was soll ich sagen? An jedem WC im Zug bot sich mir der gleiche Anblick. Ein "Defekt Schild" an der Tür. Alle Toiletten waren abgeschlossen.

Ein Schaffner, den ich darauf im Zug angesprochen habe, sagte mir nur, dass tatsächlich alle WCs in dem Zug defekt und abgesperrt seien. Da könne man nichts machen.
Ich frage mich, warum man dann nicht andere Wagons mit funktionierenden Sanitäranlagen genommen hat? Das war die erste Zugverbindung dieser Linie an dem Tag. Und Oberhausen Hbf war auch Startpunkt. Warum stellt man dann einen Zug mit defekten Klos da hin?
Diese Fahrt war dann sozusagen über zwei Stunden Beckenbodentraining für mich; immer im Hinterkopf am nächsten Bahnhof überstürzt aus dem Zug zu rennen und eine Toilette aufzusuchen.
Man muss dieses "Ich muss zur Toilette Gefühl" irgendwie aus seinem Kopf kriegen und an etwas anderes denken; zum Beispiel an völlig dämliche Muster auf den Sitzen.

Natürlich habe ich nach diesem Erlebnis die National Express Rail GmbH kontaktiert und nach einiger Zeit auch Antwort bekommen. Es gebe Probleme mit der Ent- und Versorgung der Toilettenanlagen, da nur wenige Stellen für diese Durchführung zur Verfügung stehen. Sie entschuldigen sich vielmals für die Unannehmlichkeiten. 
Ach, und eine Erstattung des Fahrpreises gibt es nur bei Verspätung, aber nicht bei defekten Toiletten. Gut zu wissen.

Ziele:
Ich habe viele Fahrten unternommen. Ganz klar, wenn man so ein Ticket hat, fährt man auch mal spontan irgendwo hin, wo man sonst nicht auf die Idee kommen würde, dort hin zu fahren.
Ich habe schöne Stunden an schönen Orten oder bei schönen Veranstaltungen verbracht.

Fazit:
In diesen drei Monaten habe ich das Leben in vollen Zügen genossen!!!!

Autor:

Nina Benninghoff aus Oberhausen

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