Michael Kumpfmüllers Roman „Ach, Virginia“
Aggression nach außen

„Liebster, ich bin mir sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde, ich kann nicht länger dagegen ankämpfen“, lässt Michael Kumpfmüller in seinem neuen Roman seine Hauptfigur, die weltbekannte Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941) klagen.

Der 58-jährige Erfolgsautor Kumpfmüller, der erst im Alter von fast vierzig Jahren mit seinem von der FAZ damals vorab gedruckten Romanerstling „Hampels Fluchten“ debütiert und zuletzt mit Nachfolgewerken wie „Die Erziehung des Mannes“ (2016) und „Tage mit Ora“ (2018) respektable Erfolge gefeiert hatte, widmet sich künstlerisch nun zum zweiten Mal einer Lichtgestalt der Weltliteratur. Vor neun Jahren ließ er uns in „Die Heimlichkeit des Lebens“ an seiner Annäherung an Franz Kafka teilhaben.
Die Methodik ist identisch: Für Kumpfmüller stand damals wie heute weder Faktentreue noch ein wissenschaftlicher Ansatz im Vordergrund, sondern ihn interessiert der Mensch hinter dem Genius, wie er gefühlt und gedacht haben könnte in seinen letzten Lebenstagen.
Wie bei Kafka geht es auch hier um das Lebensende, um die letzten Tage vor dem Selbstmord der bedeutenden englischen Schriftstellerin Virginia Woolf. Im März 1941 fallen Bomben auf London, während die große Autorin – von depressiven Schüben geplagt – ihren Selbstmord plant und einen Abschiedsbrief an ihren Mann Leonard schreibt. „Der Suizid ist eine Verzweiflungstat – aber sehr oft eben auch eine Aggression nach außen“, erklärt Autor Kumpfmüller.
Der Ehemann, der die Autorin um dreißig Jahre überlebt hat, empfindet Virginias Selbstmord in Kumpfmüllers Darstellung als Verrat. Der Politiker und Publizist stand der großen Dichterin bedingungslos, fast subaltern zur Seite.
„Mit jedem Buch, das sie veröffentlicht, wird sie berühmter. Es fällt viel Licht auf sie, da kann man als Außenstehender leicht übersehen, dass in ihr drin, sagen wir: in ihrer Seele, einige sehr alte und auch neue Dunkelheiten herrschen“, schreibt Kumpfmüller in seinem flotten, manchmal etwas saloppen Ton.
Virginia Woolf, die den englischen Roman des 20. Jahrhunderts revolutionierte und als Wegbereiterin des Feminismus' gilt, kommt hochnäsig, arrogant und undankbar daher und ist durch ihre Stimmungsschwankungen absolut unberechenbar. Mit dem Fortschreiten der Krankheit wächst ihre Verzweiflung, und es entsteht ein immenser Leidensdruck durch ihren Kampf zwischen innerem Frieden und öffentlichen Erwartungen.
Wo sind die Grenzen zwischen Virginia Woolfs künstlerischer Egozentrik, zwischen literarischem Narzißmus und ihrem krankheitsbedingten Rückzug ins eigene Innere?
Michael Kumpfmüllers halbfiktive Virginia gewinnt zwischen den Buchdeckeln ein pulsierendes Eigenleben. Gefühle, Ängste, Blicke – alles wirkt menschlich und plausibel, losgelöst von der weltberühmten Schriftstellerin. Nein, hier geht es nicht um verbriefte Fakten, nicht um „richtig“ oder „falsch“, sondern um eine Biografie im Konjunktiv, um ein empathisches literarisches Gemälde über ein gescheitertes, innerlich zerbrochenes literarisches Genie.
Und am Ende impliziert Kumpfmüllers Roman auch ein deutliches Plädoyer fürs Leben. Er lässt im letzten Satz des Romans den hinterbliebenen (und innerlich mit Virginia wieder versöhnten) Leonard in fortgeschrittenem Alter sagen: „Man wartet, dass der andere ins Bett kommt, und tatsächlich kommt sie jetzt, und allein dafür hat es sich doch schon gelohnt, dass man überlebt hat.“ Das klingt final zwar süßlich-kitschig, und doch fühlt man sich von Kumpfmüllers „Ach, Virginia“ auf beachtlichem Niveau bestens unterhalten.

Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia. Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2020, 236 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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