Buch der Woche: Der kurze Sommer des tragischen Abschieds

Urs Faes’ Roman „Sommer in Brandenburg“

„Die Stimme, etwas laut für eine Zeit, in der sie gelernt hatten, leise und unauffällig zu sein, kein Aufsehen zu erregen, zu tun, als wären sie nicht da.“ Mit diesem Satz evoziert der Aargauer Autor Urs Faes gleich auf der ersten Seite seines neuen Romans die beklemmende, von Angst geprägte Atmosphäre des Sommers 1938, in der sich zwei jüdische Jugendliche auf einem Landgut in Brandenburg kennen- und lieben lernen und dann auf tragische Weise wieder getrennt werden.

Der Entstehung dieses Romans liegt eine Verkettung von glücklichen Umständen zugrunde. Urs Faes hatte nach Erscheinen seines letzten Romans „Liebesarchiv“ eine Nachricht aus Hamburg erhalten. Der Absender erklärte, den auf dem Cover abgebildeten jungen Mann wiedererkannt zu haben. Dieser habe zwischen 1936 und 1940 in Brandenburg an einer Hachschara teilgenommen – eine jüdische Einrichtung, in der Jugendliche handwerklich und landwirtschaftlich für das spätere Leben im Kibbuz ausgebildet wurden. Seit 2011 hat sich der 66-jährige Urs Faes mit dem Thema beschäftigt und stieß dabei auf den heute 86-jährigen Herbert Fiedler, den früheren Leiter der Volkshochschule Luckenwalde, der mehr als drei Jahrzehnte lang Material gesammelt und ein privates „Hachschara“-Archiv angelegt hat. „Ich bin eingetaucht in die Archivmaterialien der Fiedlers, die mir eine vergangene Welt geöffnet haben, bezwingend, faszinierend – eine Entdeckung. Erst da beschloss ich den Roman zu schreiben“, erinnert sich der promovierte Historiker Faes an die wahrlich nicht alltägliche Vorgeschichte.
Im Mittelpunkt seines Romans, der uns eine wohl dosierte Mischung aus überlieferten Fakten und dichterischer Imagination liefert, stehen die junge Wienerin Lissy Harb und Ron Berend, Spross einer wohlsituierten Hamburger Familie, die im zunächst von den Nationalsozialisten geduldeten jüdischen Landwerk in Brandenburg aufeinander treffen. Knochenarbeit auf dem Land steht für die aus unterschiedlichsten sozialen Milieus stammenden jüdischen Jugendlichen ebenso auf dem Programm wie Hebräisch-Lektionen und Bibelkunde. Das verbindende Ziel ist die Übersiedlung nach Palästina, ein Neuanfang in einer fremden Welt, ohne Angst vor nationalsozialistischem Terror.
Urs Faes beschreibt den brandenburgischen Sommer vor der blutigen Pogromnacht am 9. November 1938 als einen ambivalenten Kosmos. Die räumliche Nähe des von jungen Juden bewohnten Hachschara-Landsitzes, eines Horts der Ausgestoßenen, zur nahen Ausbildungsstätte für junge Nazi-Piloten wirkt befremdlich. Die Berührungen zwischen Ausgestoßen und Häschern, „die Jugend, wie sie sich der Führer wünschte“, glaubt man körperlich fühlen zu können. Mit seinen malerischen Landschaftsbeschreibungen der Brandenburger Wälder und Felder und der Weite des Jordantals setzt Urs Faes einen ästhetischen Kontrapunkt zum schikanösen Alltag der jungen Juden.

Kurze Romanze als Kontrast
Dazu passt auch die trotz der angst- und leidvollen Isolation auf dem Land langsam sprießende zarte Liebe zwischen Lissy und Ron. Urs Faes schafft es nicht zuletzt durch die Suggestionskraft seiner poetischen Sprache, die flüchtigen Glücksmomente und die positiven Gefühlswallungen wie in Stein zu schlagen und mit ihnen das unmenschliche Treiben der Nationalsozialisten zu kontrastieren. Doch es ist für das frischverliebte Paar nur eine kurze Romanze, es folgt ein tragischer Abschied. Lissy erhält die Bewilligung ihrer beantragten Ausreise und verlässt mit höchst gespaltenen Gefühlen das Landgut im brandenburgischen Ahrensdorf – das eigene Überleben vor Augen, aber die erste große Liebe (wie ein Blick im Rückspiegel) verloren.
„Die Welt ist nicht einfach schwarz-weiß, sondern sie hat viele Nuancen von Grautönen, und die sind wichtig“, hatte Urs Faes in einem Interview über seinen zehnten Roman erklärt, in dem er ganz bewusst bei der Zeichnung seiner Charaktere auf die Karte der Vielfältigkeit gesetzt und damit allen gängigen Klischees aus dem Weg gegangen ist. Bei ihm gibt es nicht den „bösen“ Nazi schlechthin und auch nicht die allseits „guten“ Juden.

Wie eine große Oper
Urs Faes war noch nie ein Schnellschreiber, diesmal sind seit dem Erscheinen seines letzten Romans sechs Jahre ins Land gegangen, die er für umfangreiche Recherchen und ausgedehnte Reisen an die Handlungsschauplätze genutzt hat. Für den Leser hat sich das Warten gelohnt. „Sommer in Brandenburg“ kann man mit Faes’ Meisterwerken „Ombra“ (1997) und „Als hätte die Stille Türen“ (2005) auf eine Stufe stellen und präsentiert sich mit seinem emotionalen Auf und Ab, mit seinem tiefschwarzen historischen Kontext, seinen pittoresken Landschaftsbildern und der fein inszenierten Liebestragödie als ein imponierendes empathisches Kunstwerk. Ein Roman wie eine Achterbahnfahrt der Gefühle, dabei so klangvoll und nachhallend wie eine große Oper.

Urs Faes: Sommer in Brandenburg. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 262 Seiten, 19,95 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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