Buch der Woche: Ein unmoralisches Angebot

Ingrid Nolls neuer Roman „Hab und Gier“

„Als die Kinder aus dem Haus waren, fing ich erst vorsichtig und tastend und dann immer energischer an, mich in eine Schriftstellerin zu verwandeln“, erinnert sich die Erfolgsautorin Ingrid Noll an ihre Anfänge. Sie hatte die Fünfzig bereits überschritten, als sie mit ihrem 1991 erschienenen Debütroman „Der Hahn ist tot“ sofort die Bestsellerlisten stürmte. Ein neuer unkonventioneller Stern am deutschen Krimi-Himmel war aufgegangen.

Auch die nachfolgenden Werke (alle bei Diogenes erschienen) „Die Apothekerin“ (1994), „Kalt wie der Abendhauch“ (1996), „Selige Witwen“ (2001), „Rabenbrüder“ (2003), „Kuckuckskind“ (2008), „Ehrenwort“ (2010) und „Über Bord“ (2012) fanden reißenden Absatz, wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt und machten Ingrid Noll zur meist gelesenen deutschsprachigen Krimi-Autorin.
Sie hält auch in ihrem neuen Roman (wie kaum anders zu erwarten) am bewährten Rezept ohne effektvoll inszenierte blutige Mord-und-Totschlagszenarien fest. Bei Ingrid Noll stehen die Figuren von nebenan im Mittelpunkt. Menschen, die man aus dem Eff-Eff zu kennen glaubt, die eher spießig als kriminell daherkommen, in deren Innern sich aber dennoch tiefe Abgründe auftun und die auf frappierende Weise an das bürgerliche Personenensemble in den Romanen von Gabriele Wohmann erinnert.
Die frühpensionierte Bibliothekarin Karla, eine unauffällige Frau von Anfang sechzig, wird zum Handlungseinstieg mit einem unmoralischen Angebot konfrontiert. „Du wirst meine Alleinerbin, falls du mir die Liebe tust und mich umbringst“, eröffnet ihr der alleinstehende Wolfram, ein krebskranker ehemaliger Arbeitskollege („besonders mickriges Exemplar von Mann“) bei einem Treffen in seiner riesigen, aber leicht heruntergekommenen Villa.
Eine fraglos reizvolle Offerte für Karla, die eher schlecht als recht mit ihrer kargen Rente über die Runden kommt. Kann sie sich nicht für Wolframs geäußerten Wunsch der aktiven Sterbehilfe entscheiden, stehen alternativ noch zwei andere lukrative Hilfsangebote im Raum. Pflegt Karla ihren Ex-Kollegen bis zum Tod, dann erhält sie die Hälfte seines Vermögens; ein Viertel winkt ihr immer noch, wenn sie lediglich die spätere Grabpflege übernimmt.

Tod kommt schneller als erwartet
Verständlich, dass die winkende finanzielle Absicherung in der alleinstehenden Protagonistin tiefe Zwiespälte auslösen. Wie immer sie sich entscheidet, sie kann bei allen drei „Hilfs“-Varianten von Wolframs Tod profitieren. Und der kommt schneller als erwartet, nachdem auch die junge Ex-Kollegin Judith und deren Freund Cord von dem „unmoralischen Angebot“ erfahren hatten. Eine Nichte von Wolframs verstorbener Frau meldet Ansprüche an, stört aber nur kurzzeitig die Erb-“Harmonie“, alles scheint zunächst seinen geplanten Lauf zu nehmen. Karla, Judith und Cord richten sich in der Villa ein, dann tritt Autorin Ingrid Noll noch einmal vehement aufs Handlungs-Gaspedal und es bleibt – entfacht von der im Romantitel zitierten „Gier“ - nicht bei der einen Leiche.
Zwischen all den sperrigen, nach philosophischem Tiefsinn hechelnden opulenten Erzählmonstren, die oftmals eine mehrmalige Quer, Hin- und Zurück-Lektüre erfordern, ist dieser schmale, flott erzählte, nicht unspannende Roman eine wahre Wohltat. Eine angenehm leichte Lektüre, ein unspektakulärer, aber tiefsinniger Krimi mit wohl dosiertem schwarzen Humor. Statt Blutlachen dominieren bei Ingrid Noll fein geschliffene Menschenbilder und jede Menge Lebensweisheit. Man muss sich nicht genieren, wenn man offen gesteht, dass man sich von der Grande Dame des deutschen Krimis auf perfekte Weise unterhalten fühlt.

Ingrid Noll: Hab und Gier. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2014, 253 Seiten, 21,90 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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