BUCHTIPP DER WOCHE: Hunger nach Normalität

Steve Sem-Sandberg: Die Elenden von Lodz. Roman. Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011, 649 Seiten, 22,95 Euro

Bis vor wenigen Monaten war der Schwede Steve Sem-Sandberg im deutschen Sprachraum so gut wie unbekannt. Das hat sich nun schlagartig geändert, denn sein 2009 veröffentlichter und mit dem wichtigsten schwedischen Literaturpreis ausgezeichneter Dokumentarroman „Die Elenden von Lodz“ liegt nun auch in deutscher Sprache vor.

Der 53-jährige Autor, der mit 18 Jahren seinen ersten Roman geschrieben hat und später als Redakteur bei der angesehenen Tageszeitung „Svenska Dagbladet“ gearbeitet hat, legte ein Buch über das Juden-Getto von Lodz vor, das nicht gelesen, sondern bezwungen werden will und dem die viertausend Seiten starke Chronik des Gettos zugrunde liegt. Eine aufwühlende Mischung aus Fakten und Fiktion, die all das in den Schatten stellt, was man an „Getto-Literatur“ schon gelesen hat - von Jurek Beckers „Jakob der Lügner“ bis hin zu Jonathan Littels „Die Wohlgesinnten“.
Bei Sem-Sandberg kommt eine ganz entscheidende Facette hinzu, die all das Leid, die Unmenschlichkeit und das Barbarentum noch einmal zu vervielfachen scheint - die Figur des Mordechai Chaim Rumkowski, der als Judenältester des Gettos in tiefe Zwiespälte getrieben wird und sich so zum Kollaborateur wider Willen entwickelt.
Der Fabrikant und Waisenhausdirektor, der „Pan Smierc, Herr Tod“ genannt wird, arrangiert sich mit den deutschen Befehlshabern. Er geht Kompromisse ein, im festen Glauben, auf diese Weise noch größeres Unglück verhindern zu können. Mehr und mehr passt er sich jedoch den Mechanismen des Unrechts an, nennt aufständische Juden „verweichlichte Parasiten und Arbeitsverweigerer“, spricht selbst Strafen aus und droht mit Deportation.
Das Getto entwickelt sich unter seiner Organisation zu einer gut funktionierenden Produktionsstätte für die deutsche Wehrmacht. Kleidung wird genäht, sogar Munition hergestellt - ein geradezu zynisches System. Rumkowski machte sich nicht nur zum Helfer, sondern setzte den unmenschlichen Schikanen noch die Krone auf, indem er stets noch mehr Arbeitsleistungen forderte. „Alles musste damals als Alltag bewältigt werden“, bekannte Autor Sem-Sandberg in einem Interview.
Die Nebenfiguren können kaum aus Rumkowskis langem Schatten heraus treten. Da ist die junge Juristin Regina, die später Rumkowskis Frau wird; der verschlagene Arbeiter Adam Rzepin, die aus Prag stammende Vera, die sich im Archiv nützlich macht; und das Waisenkind Staszek, das eigentlich Stanislaw heißt und von Rumkowski im September 1942 adoptiert wurde. Sie leiden alle unendlich stark, pendeln stets emotional zwischen Hoffen und Bangen, und dennoch scheinen sie nur an Rumkowskis Fäden zu hängen. „Was man vergisst, ist der Hunger nach Normalität, den diese Menschen hatten“, erklärte der schwedische Autor, der fünf Jahre an diesem opulenten Werk gearbeitet hat.
Die wahrscheinlich bewegendste Sequenz des Buches beschreibt die verhängte einwöchige Ausgangssperre. Mit deren Hilfe wollten die SS- und Gestapo-Unholde alle Kinder, Kranken und Greise selektieren. Und Rumkowski fordert: „Brüder und Schwestern, gebt sie mir! Gebt mir eure Kinder! Legt eure Opfer in meine Hände, damit ich weitere Opfer verhindern kann.“ Das klingt so zynisch und aberwitzig, dass man es (wüsste man es nicht besser) am liebsten als böse Fiktion abtun möchte.
Ob Rumkowski aus niederen Motiven gehandelt hat, ob ihm bei all dem unmenschlichen Treiben die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwommen sind, oder ob er vielleicht doch noch den Funken Hoffnung verspürte, eventuell noch Menschenleben retten zu können - wer will heute darüber richten? Für ihn selbst gab es so wenig Rettung wie für das Gros der fast 200 000 Getto-Insassen.
Und das hat Steve Sem-Sandberg mit seinem Buch eindrucksvoll beschrieben. Ohne falsches Pathos, einfach nur erschütternd - ein großes Stück literarische Zeitgeschichte.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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