Katharina Korbachs Romandebüt „Sperling“
Das Mädchen aus dem Gemälde

"Sie hatten beide lange nichts gesagt, dem Regen gelauscht. Von draußen war trübes Licht ins Zimmer gefallen, das über die Wände zog, wann immer ein Auto vorüberfuhr. Illuminierte Quadrate, durchschnitten von den Bahnen der Tropfen auf den Fensterscheiben. Ein Schattentheater."

Es geht ausgesprochen unaufgeregt im Romandebüt der 27-jährigen, in Berlin lebenden Autorin Katharina Korbach zu, die mit einigen Erzählungen bereits auf sich aufmerksam gemacht hatte.
Im Mittelpunkt der Handlung stehen zwei Berlin-Neuankömmlinge - beide introvertierte Einzelgänger und beide Suchende, nach Heimat und wohl auch nach Zuneigung. Wolfgang arbeitet an seiner Dissertation („Marcel Proust und literarische Erinnerungskonzepte“), gibt Literaturseminare und bewegt sich emotional stets auf einem schmalen Grat zwischen Erschöpfung und Unzufriedenheit. Charlotte studiert Literatur, besucht Wolfgangs Seminare und arbeitet nebenbei in einem Bistro. Sie wirkt fahrig und unstet, hat mit starken Gemütsschwankungen zu kämpfen und trägt am Oberkörper ein geheimnisvolles Sperling-Tattoo.
Wolfgang ist mit seiner Arbeit fast fertig, hadert aber noch mit dem Abschluss. Er schaut aus dem Küchenfenster seiner Wohnung im Berliner Stadtteil Kreuzberg, sieht gegenüber eine zeichnende Frau und fühlt sich an das Vermeer-Gemälde „Das Mädchen mit den Perlenohrringen“ erinnert. Diese Frau ist seine Studentin Charlotte. Wolfgang lädt sie zu einem gemeinsamen Ausstellungsbesuch ein, eine seltsam platonische Beziehung entsteht – hier pulsieren nicht die Hormone, sondern es tanzen unrhythmisch die Gedanken der beiden Protagonisten. Es wird mehr gedacht und gefühlt als gehandelt. Das Unausgesprochene scheint sich bleischwer über die ohnehin komplizierte Beziehung der beiden zu legen. Die Arbeit mit ihren Erinnerungen erheben beide zu einer intimen Privatangelegenheit, zu einer Art Verschlusssache.
Autorin Katharina Korbach arbeitet mit einem ständigen Perspektivwechsel zwischen den beiden Protagonisten. Das von ihr durchgängig verwendete Präsens steigert bei der Lektüre die Nähe zu den Figuren. Man könnte meinen, diese Beziehung gewinnt eine selbsttherapeutische Eigendynamik. Charlotte bewältigt in Wolfgangs Wohnung ihre Schlafstörungen, er überwindet in ihrer Nähe seine Schreibblockade und schließt seine Proust-Dissertation ab.
Für Wolfgang wird die Beziehung zusehends zur Obsession. Er weiß nicht, was ihn an Charlotte fasziniert und warum er sich beinahe magisch von ihr angezogen fühlt.
Zwischen den beiden steht Charlottes Therapeut Dr. Szabó, mehr ein theoretisierender, selbstverliebter Langweiler als ein praktischer Lebenshelfer. Auch in ihren Gesprächen dominiert das Verschweigen.
Die junge Katharina Korbach hat en passant auch noch hervorragende, detailverliebte Beschreibungen des Alltags in der Metropole Berlin und damit zwischen den Zeilen noch den Ansatz eines Großstadtromans mitgeliefert. Die Debütantin kommt ohne verbales Gepolter aus, sie erzählt bedächtig, beinahe entschleunigend – exakt passend zu den Charakteren ihren beiden Protagonisten.
Die Geheimnisse zwischen Wolfgang und Charlotte stehen am Ende noch im Raum. Es gibt keine soziologisch-psychologische Auflösung des Beziehungsknotens. Autorin Katharina Korbach hält sich wohltuend zurück und überlässt die Hauptfiguren ihrem „Schicksal“. Beide sind (um den Faden zu Proust aufzunehmen) auf „der Suche nach einer verlorenen Zeit.“ Und auf der letzten Seite ist der Sperling wieder da. „Er fliegt ja wieder“, konstatiert Charlotte.
Ein Roman voller Geheimnisse, ein faszinierendes, ja beeindruckendes Debüt aus der Feder von Katharina Korbach.

Katharina Korbach. Sperling. Roman. Berlin Verlag, München 2022, 317 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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