Sasha Filipenkos Roman „Der ehemalige Sohn“
Ein Land im Koma

Als ich damals versuchte zu schreiben, wie es ist, konnte ich eigentlich schon davon ausgehen, dass ich auch erzähle, was passieren wird. Für mich als Autor ist es natürlich super, dass mein Roman jetzt so aktuell ist“, erklärte der Autor Sasha Filipenko kürzlich.

Man muss gleich vorweg schicken, dass dieser Roman bereits vor sieben Jahren im Original erschienen ist. Warum das wichtig ist? Filipenkos Roman spielt in Belarus, und die von ihm beschriebenen politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse unter dem Lukaschenko-Regime haben sich kaum verändert. Unterdrückung, Verfolgung oppositioneller Kräfte, Wahlfälschung und Polizeiterror sind heute aktueller denn je.
Der 37-jährige, in Minsk geborene Filipenko lebt momentan als Stipendiat in der Schweiz. Im Juli endet der Aufenthalt für den zum „Staatsfeind“ erklärten Autor: „Vielleicht findet sich noch eine Möglichkeit, in Graz oder Berlin. Ich will auch nicht um politisches Asyl ersuchen.“
In seinem Roman geht es um den jungen Franzisk Lukitisch, der im Alter von 16 Jahren auf dem Weg zu einem Konzert in Minsk in eine Massenpanik gerät und ins Koma fällt. Nach drei Wochen haben ihn die Ärzte, die seinen Zustand mit menschenverachtenden Formulierungen beschreiben, und sogar seine Mutter aufgegeben. Lediglich seine Großmutter, die Übersetzerin Elvira Alexandrowna glaubt an ihn und fungiert als eine Art Brücke zur Außenwelt. Sie erzählt dem musikalisch begabten Teenager am Krankenbett alle Neuigkeiten, spielt ihm Musik vor und liest aus Büchern. Fast zehn Jahre nach dem Unglück, wenige Tage nach dem Tod seiner Großmutter, erwacht Franzisk wieder: Seine Mutter hat einen der Ärzte geheiratet, die den Jungen frühzeitig aufgegeben hatten, und seine damalige Freundin Nastja hat einen seiner besten Freunde geheiratet.
In der privaten Sphäre hat sich einiges getan, aber das gesellschaftliche Leben in Minsk hat sich überhaupt nicht verändert. Das Regime Lukaschenko beherrscht das Land mit immer perfideren Methoden, die Jugend will weg aus Belarus, viele Menschen leben in einer Mischung aus Angst, Gehorsam und Illusionslosigkeit. Franzisks Freund Stass begeht Selbstmord, und der Protagonist sehnt sich nach seinen deutschen Gasteltern und der damit verbundenen Freiheit, dann wäre er für seine ihm verhasste Mutter tatsächlich – so wie der Titel es verheißt – „der ehemalige Sohn“.
In Filipenkos Roman hat das Koma des Protagonisten allegorischen Charakter und steht für einen gesellschaftlichem Tiefschlaf, für totale Ohnmacht im Land. Auch die Großmutter hat symbolische Funktion. Ihr unerschütterlicher Glaube an das Ende des Siechtums wirkt wie das Festhalten am „berühmten“ Strohhalm der letzten Hoffnung.
Mit reichlich schwarzem Humor berichtet der Autor von einer lethargischen Schockstarre, in der sich das Land über viele Jahre befand und sich nun (die Hoffnung schwingt allenthalben zwischen den Zeilen mit) in kleinen Schritten zu befreien versucht.
„Wer vom Alltag in Belarus schreibt, ohne politisch zu werden, hat keinen realistischen Blick“, hatte Filipenko über die Entstehungsgeschichte seines immer noch aktuellen und bewegenden, aber dennoch schwungvoll erzählten Romans erklärt.
Und der Autor wünscht sich sehnlichst, dass Belarus (so wie die Hauptfigur Franzisk) aus dem jahrelangen Koma erwacht und sich möglichst friedlich vom Joch des Lukaschenko-Regimes befreit. „Franzisk ging weg, die Melodie flog über den Friedhof dahin. Eine schöne, gleichmäßige Cellostimme, keinerlei falsche Töne.“

Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn. Roman. Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer. Diogenes Verlag, Zürich 2021, 320 Seiten, 23 Euro.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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