Uwe Timms Band „Alle meine Geister“
Erinnern oder vergessen?

"Erinnern ist ein merkwürdiges Vergessen", heißt es im neuen Band von Uwe Timm, der (ganz bewusst) ohne Genrebezeichnung erschienen ist. Es geht darin um Erinnerungen, um die Beleuchtung von Lebensetappen und um fürs spätere Leben wegweisende Erfahrungen. Ohne selbstverliebte Nabelschau und ohne pathetisches Geraune.

Timm umkreist die Jahre zwischen 1955 und 1960 mit kritischem Blick, stellt latent wieder die Frage, wie sein Leben hätte verlaufen können, wenn er irgendwann anders „abgebogen“ wäre. Das ist äußerst charmant, immer mit einem leichten Augenzwinkern erzählt.
Timm ist einer der vielseitigsten zeitgenössischen deutschsprachigen Schriftsteller, studierte in den wilden Jahren der Studentenbewegung in Paris, war DKP-Mitglied und mit Benno Ohnesorg gut befreundet. Er war immer auch ein engagierter „Einmischer“ mit deutlich vernehmbarer Stimme und klaren Positionen. So ging er 2017 in einem Interview mit der „Deutschen Welle“ hart mit dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump ins Gericht.
Seine größten Erfolge feierte der inzwischen 83-jährige Autor Anfang der 1990er-Jahre mit der Verfilmung seines Kinderbuchbestsellers „Rennschwein Rudi Rüssel“ und dem Roman „Die Entdeckung der Currywurst“, der in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde.
Timm berichtet, wie er als Kind mit Büchern aufwuchs, dass er viel vorgelesen bekam und dann später eine Ausbildung als Kürschner absolvierte. Die Erinnerungen an das fast vergessene Kürschner-Handwerk sind mit viel Liebe zum Detail und großem Respekt verfasst: „"Es ist eine sehr komplizierte, sehr schöne Arbeit, die aber an ihre Grenzen kam, als die Nerz- und Persianerzucht aufkam.“ Pelze waren in den späten 1950er Jahren ein Symbol des Wohlstands, ein sichtbares Zeichen des Wirtschaftswunders - sozusagen „der Rolls Royce in der Modewelt.“
Nach dem frühen Tod des Vaters hat Uwe Timm die hoch verschuldete Firma „Pelze Timm“ wieder in ruhiges Fahrwasser geführt und begegnete in dieser Zeit vielen extrovertierten Frauen. Überraschend wenig ist hier von Sexualität die Rede – dafür lässt uns Timm an seinen frühen Lektüreerfahrungen teilhaben und kokettiert auch ein wenig mit seiner Außenseiterrolle unter Gleichaltrigen.
„Und die entscheidenden Bücher kamen von ganz entscheidenden Menschen", schreibt Timm. Salingers „Fänger im Roggen“ habe er von einem jungen, leicht rebellischen Kürschner empfohlen bekommen. Und dann war da noch der betagte Kürschnermeister Kruse, der einst im Widerstand gegen die Nazis agiert hatte und der ihm Eugen Kogons „Der SS-Staat“ ausgeliehen hatte. „Walther Kruse begleitet mich mit seinem kritischen Blick auf die Gesellschaft und auf die deutsche Geschichte.“
1961 gelang ihm die Aufnahme in ein Erwachsenenbildungskolleg in Braunschweig, wo er Benno Ohnesorg kennenlernte, das Abitur nachholte, um später in Paris und München zu studieren. Neben dem politischen Engagement in der Studentenbewegung erfahren wir viel über seine Leseerlebnisse mit Dostojewski, Benn und Camus.
Was wäre gewesen, wenn er nicht nach Braunschweig gegangen wäre und wenn er anderen Menschen begegnet wäre? Das Hinterfragen des eigenen Lebensweges spielt eine zentrale Rolle, so ist eine reizvolle Reflexion im Konjunktiv entstanden.
Uwe Timm hat keine lupenreine Autobiografie vorgelegt, sondern ein beschwingend leicht verfasstes poetisches Erinnerungsbrevier.
"Alle meine Geister" vereint gekonnt zwei (höchst unterschiedliche) Erzählperspektiven: die des in die Jahre gekommenen Autors, der zurückblickt und die des jungen Kürschners, der neugierig auf das Leben und in eine ungewisse Zukunft schaut. En passant atmen wir ausschnitthaft auch ein wenig die Luft des Wirtschaftswunders ein. Intelligent, großartig erzählt – ein Buch, das sich auch zum Schmökern eignet.

Uwe Timm: Alle meine Geister. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2023, 275 Seiten, 25 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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