Melitta Brezniks Abschiedschronik „Mutter“
Nur die Hand halten

„Als sie mir sagte, sie könne das Bett kaum mehr verlassen, machte ich mich ohne weiteres Zögern auf den Weg hierher“, heißt es in Melitta Brezniks schmalem Abschiedsbuch. Die Mutter hat die neunzig überschritten und ist unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt.

Über die letzten sieben Lebenswochen, in denen sich Mutter und Tochter sehr nahe kamen, aber oft auch völlig fremd fühlten, berichtet die 59-jährige, in der Steiermark geborene und seit vielen Jahren in der Schweiz lebende Melitta Breznik.
Die ausgebildete Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, die seit geraumer Zeit in einer Klinik in Graubünden arbeitet, hat in den letzten 25 Jahren sechs schmale Bücher vorgelegt, zumeist autobiografisch grundierte Erinnerungen über harte Zäsuren in ihrem familiären Umfeld: vom Euthanasietod ihrer Großmutter während der NS-Zeit, über den Tod des Vaters bis zum langsamen Dahinsiechen ihrer Mutter.
„Ich erkenne in ihren Augen ein Erstaunen, als würde sie die Welt auf eine Art inniger betrachten“, konstatiert die Tochter, die am Sterbebett an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit stößt.
Erinnerungen kommen hoch, die frühe Schwangerschaft der Tochter, die das Kind gerne bekommen hätte, aber von ihrer Mutter zur Abtreibung gedrängt wurde. Vieles bleibt unausgesprochen, schwebt wie ein gemeinsames, aber doch nicht greifbares Fragment durch den Raum. Der gebrochene Lebensweg der Mutter, die einem Mann aus Hessen in die Steiermark gefolgt ist und nie richtig glücklich wurde, wird aus der Perspektive beider Personen mosaikförmig rekonstruiert.
Wie in ihren früheren Werken bewegt sich Melitta Breznik wieder auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Medizin, zwischen ärztlicher Expertise und lakonischer Betroffenheitsprosa. Ihre Sprache, deren tiefe Emotionalität zwischen den Zeilen verborgen ist und die sich nicht zwingend beim ersten flüchtigen Lesen erschließt, kommt ohne jedes Pathos daher. Karg und fast protokollarisch, wenig artifiziell, aber dafür absolut authentisch. „Es gilt, alles medizinisch Sinnvolle zu unternehmen, um Mutters Leiden zu lindern, doch sehe ich ebenso ihr Bedürfnis nach Ruhe. Alles in mir sträubt sich dagegen, ihr Schmerzen zuzufügen", heißt es gegen Ende des Buches.
„Mutter“ ist ein Buch des Innehaltens, ein langsames, besinnliches Stück Prosa über den Tod – voll mit psychischem und physischem Leid, aber (wenn man bereit ist, sich vollends auf den Text einzulassen) auch ein schmales Brevier des Trostes.
„Ich kann ihr an diesen langen stillen Tagen nicht anders beistehen, als ihr die Hand zu halten", heißt es in einer Mischung aus Ohnmacht und Ratlosigkeit. Das Handhalten, das Dabeisein, die Anteilnahme durch körperliche Nähe sollte man nicht gering schätzen, erst recht nicht mit den Erfahrungen der aktuellen Corona-Beschränkungen im Hinterkopf.

Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abschieds. Luchterhand Verlag, München 2020, 158 Seiten, 18 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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