Gerda Blees' Roman „Wir sind das Licht“
Wenn die Socken sprechen

Eine Frau verhungert, und drei ihr nahestehende Personen schauen ihr dabei zu. Das ist der beklemmende Handlungsrahmen des Romans „Wir sind das Licht“ aus der Feder der 37-jährigen niederländischen Schriftstellerin Gerda Blees. Bisher waren lediglich eine Sammlung von Kurzgeschichten und ein schmaler Lyrikband aus der Feder der in Haarlem lebenden Autorin erschienen. Und nun dieser mit dem Preis des niederländischen Buchhandels und des Europäischen Literaturpreises ausgezeichnete Roman, der uns sowohl formal als auch inhaltlich eine gehörige Portion Respekt abverlangt.

Die Tote heißt Elisabeth und war Mitglied in einer esoterisch-querdenkerisch orientierten Vierer-Wohngemeinschaft, zu der auch ihre Schwester Melodie sowie Muriel und Petrus gehörten und die eine freiwillige Abschottung gewählt hatten.
Zunächst klingt das ein wenig nach Krimi und Soziostudie, denn Melodie, Muriel und Petrus werden von der Polizei verhört. Es steht eine Täterschaft im Raum. Doch hier wird dem Leser schnell klar, dass mehr dahinter steckt und man allenfalls über unterlassene Hilfeleistung diskutieren kann. 2017 hat es in Utrecht ein ähnliches „Vorkommnis“ gegeben, bei dem eine Frau verhungert ist.
In dieser obskuren Wohngemeinschaft herrschten eigene, völlig irrationale Gesetze, das Denken hat sich radikalisiert und weist unübersehbare Parallelen zur sogenannten „Querdenker“-Szene auf.
Melodie van Hellingen, die Schwester der Toten, hat sich nach einer gescheiterten Ausbildung als Cellistin mehr und mehr aus der Gesellschaft entfernt und hat sich zu einer gefährlichen, analogen „Influencerin“ entwickelt. Sie führte Meditationsübungen durch, leitete das gemeinsamem Musizieren an und beeinflusste die Essgewohnheiten ihrer Mitbewohner immer stärker, „um zu lernen, mit meinem Widerstand umzugehen“.
Gerda Blees erzählt ihren Roman in 25 Kapiteln aus 25 unterschiedlichen Perspektiven. Dabei kommen etliche Personen aus dem Umfeld (Nachbarn und Eltern der Hauptfiguren), aber auch Gegenstände aus dem Alltag zu Wort. Mal ist es ein Entsafter, der bei Petrus schwere seelische Erschütterungen auslöst, mal sind es Zigaretten oder die Wollsocken, die konstatieren: „Wir sind nur einfache Socken, und der Tod ist nicht gerade unser Spezialgebiet.“ Das ist nicht nur äußerst raffiniert, weil es der Handlung die bleierne Schwere nimmt, sondern hier und da auch mit einem ganz subtilen Humor garniert.
„Klang und Liebe“ war der Name der Wohngemeinschaft, der auf Nähe, Vertrauen und Feinsinnigkeit schließen lässt. Letztlich predigte aber Melodie (nomen est omen), die Schwester der Toten, einen tödlichen Weg der spirituellen Befreiung. Sie „glaubten daran, sich ausschließlich von Licht ernähren zu können.“
„Das klingt furchtbar modern und affektiert. Aber bei Blees klappt es gut“, hatte die überregionale niederländische Zeitung „Volkskrant“ aus Amsterdam nach Erscheinen des Originals vor zwei Jahren geurteilt. Modern, etwas verspielt, aber im Kern ein absolut ernstes und beeindruckendes Buch.
Ein halbes Jahr nach Erscheinen der deutschen Übersetzung von Marieke Lucas Rijnevelds beklemmenden Missbrauchsromans „Mein kleines Prachttier“ begegnen wir nun erneut einem Erzählwerk einer jungen niederländischen Autorin, das uns in Staunen versetzt.
„Manchmal machten sie einfach den Eindruck, als kämen sie von einem anderen Planeten. Auch, wie sie aussahen“, urteilten Nachbarn über die WG-Mitglieder.
Gerda Blees hat mit diesem facettenreichen Roman auch ein wenig unseren Kosmos erweitert – inhaltlich und formal. Man freut sich schon jetzt auf mehr aus der Feder dieser hochbegabten Autorin.

Gerda Blees: Wir sind das Licht. Roman. Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2022, 240 Seiten, 23 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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