Henning Ahrens' Roman „Mitgift“
Zwischen Hass und Liebe

„Es gibt eine gewisse Diskrepanz zwischen dieser Welt, aus der ich stamme, und der Welt, in der ich mich jetzt bewege, als Autor, Übersetzer und so weiter“, erklärte der 57-jährige Schriftsteller Henning Ahrens, der als Romancier, Essayist und Übersetzer reüssierte, über seine Herkunft. Ahrens wuchs auf einem Bauernhof im niedersächsischen Klein Ilsede auf, studierte in Kiel, London und Göttingen, promovierte über den walisischen Dichter John Cowper Powys und lebt heute in Frankfurt.

Dies alles ist für den Hinterkopf wichtig, denn Ahrens hat sich ganz offensichtlich an seiner eigenen Familiengeschichte abgearbeitet, nicht im Sinne einer absolut faktenorientierten Dokumentation, sondern als Folie für einen verzweigten Familienroman über das patriarchale Landleben.
Ahrens breitet die Geschichte einer Familie von der Mitte des 18. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts aus. Die Leebs betreiben seit mehr als 300 Jahren und über sechs Generationen hinweg Landwirtschaft im Umfeld der Kreisstadt Peine.
Im Mittelpunkt steht Wilhelm Leeb, ein überzeugter Nazi und herrischer Patriarch (im Umfeld „General“ genannt), für den sich Ahrens an der Vita seines Großvaters bedient hat. „Diese Figur habe ich natürlich für den Roman sehr stark zugespitzt“, erklärte Ahrens kürzlich. Der alte Leeb kehrt als Kriegsteilnehmer heim - ohne Schuldgefühle, ohne jedes Mitgefühl. Er sah sich lediglich als funktionierendes Zahnrad in einem mächtigen Getriebe. Den Hof will er wieder in Schwung bringen, wirft alles, was seine Frau und sein Sohn Wilhelm Junior in seiner Abwesenheit aufgebaut haben, über den Haufen. Ein handfester Vater-Sohn-Konflikt ist vorprogrammiert. Ein Konflikt, mit schrecklichem Ausgang. Wilhelm Junior begeht nämlich Selbstmord, und zum ersten Mal zeigt der alte Leeb menschliche Reaktionen. Es ist aber eher Ratlosigkeit als Trauer oder Mitgefühl, die ihn umtreibt, als er die Totenfrau Gerda Derking aufsucht, die seit vielen Jahren von den Dorfbewohnern zu Rate gezogen wird, um den Leichnam vor der Beerdigung nach den Wünschen der Hinterbliebenen zurechtzumachen. Über Gerda Derking - halb Bestatterin, halb Seelsorgerin - nähert sich Ahrens den Frauenfiguren in seinem Roman. Geradezu unterwürfig werden die Leeb-Frauen geschildert, bevormundete Befehlsempfänger, die als Arbeitskraft, aber nicht als Partnerinnen gesehen werden.
Dem rauhen, geradezu diktatorisch anmutenden Familienleben hat Ahrens eindrückliche Bilder über das Dorf, den Hof und die Landschaft des niedersächsischen Flachlandes zwischen Hannover und Braunschweig gegenüber gestellt.
Wie schon in seinen früheren Werken lässt Ahrens auch nun wieder eine Prise schaurig-symbolische Fantastik einfließen. Eine schwarze Katze, der ein Bein und der Schwanz fehlt, begleitet Wilhelm junior auf einem seiner letzten Spaziergänge durchs Dorf. Die an Körper und Seele geschundenen Kreaturen marschieren hier anscheinend im Gleichschritt.
Der Roman „Mitgift“ (man kann dies durchaus auch als vergiftetes Erbe interpretieren) ist Henning Ahrens' bisher persönlichstes Buch. Er hat dafür ein Konvolut von Briefen aus der Kriegsgefangenschaft seines Großvaters und drei Tagebücher ausgewertet und fiktionalisiert in den Roman einfließen lassen. Er erzählt nicht linear, sondern mit vielen Zeitsprüngen auf unterschiedlichen Handlungsebenen: von der Ankunft der Amerikaner, vom Rückzug der deutschen Truppen (mit Wilhelm Leeb senior) aus der Ukraine und von Wilhelm junior als 9-jähriges, schwermütiges Kind: „Wenn ich tot wäre, würden Mutter und die Omas bestimmt um mich weinen, geht es ihm durch den Kopf.“
Dieser Roman steckt voller Zwiespälte. Weder mit dem Landleben noch mit der Familie (Leeb) wird kategorisch abgerechnet. Es ist ein typisches „Ja-aber-Buch“, eines das völlig ambivalente Gefühle spiegelt und auch beim Leser hinterlässt und darüber hinaus nachdrücklich zeigt, wie sich unmenschliche Politik und menschenverachtende, autoritäre Strukturen auf den familiären Mikrokosmos auswirken können.
Wie heißt es im Karat-Song „Über sieben Brücken“ so treffend: "Manchmal hasst man das, was man doch liebt!"

Henning Ahrens: Mitgift. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021, 345 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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