Jessica Tepass konnte nicht lesen und schreiben
Raus aus einem Leben ohne Buchstaben

6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht lesen und schreiben. | Foto: Gerd Altmann / Pixabay
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  • 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht lesen und schreiben.
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Einkaufen war für Jessica Tepass immer ein Horror. Einmal, erinnert sie sich, hat sie im Supermarkt Erbsen und Möhren gesucht. Weil auf den Dosen keine Bilder waren, hat sie allen Mut zusammen genommen und jemanden um Hilfe gebeten. Sie geriet an den Falschen. "Ob ich dumm sei, wurde ich gefragt."

Diese Erlebnisse prägen. Jessica Tepass hat sich fast ihr ganz Leben lang durchgemogelt. Zu groß war die Scham zu sagen: "Ich kann nicht lesen und schreiben."
Damit stand sie bei weitem nicht allein da. Laut der LEO-Studie der Universität Hamburg von 2018 haben in Deutschland 6,2 Millionen Menschen eine "geringe Literalität", so der Fachausdruck. Damit gemeint ist, dass Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren höchstens einzelne Sätze lesen und/oder schreiben können, sie scheitern aber aber an der Ebene zusammenhängender – auch kürzerer – Texte.

Durchs Raster gefallen

Wie kann es sein, dass Menschen das Schulsystem durchlaufen, ohne diese Fertigkeiten zu erlernen? Die Weselerin überlegt nicht lange. "Meine Lehrerin hat sich für mich nicht interessiert, es fehlte an Unterstützung." Nicht nur in der Schule, auch zu Hause. "Meine Eltern haben mir nichts vorgelesen", erinnert sich die heute 37-Jährige. Erst im Erwachsenenalter erfuhr sie, dass ihr Vater ähnliche Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hat wie sie selbst. Thematisiert wurde das nie in der Familie.

Jessica Tepass: Seit sie vor zwei Jahren lesen und schreiben gelernt hat, hat sich das Leben der Weselerin zum Guten gewendet.  | Foto: Tinnefeld
  • Jessica Tepass: Seit sie vor zwei Jahren lesen und schreiben gelernt hat, hat sich das Leben der Weselerin zum Guten gewendet.
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Sie erkannte nur A, B und C

Jessica erinnert sich noch an die Anfänge des Lesenlernens in der Grundschule. "Die Buchstaben A, B und C konnte ich. Alle anderen Buchstaben habe ich zwar als Zeichen erkannt, aber die Bedeutung nicht." Dabei blieb es lange Jahre.
"Das Zeitfenster, in dem in unserem Schulsystem Lesen und Schreiben vermittelt wird, ist ja maximal die Grundschulzeit. Verpasst man da den Anschluss, fällt es später schwer, das Versäumte nachzuholen", erklärt Jennifer Sniegon, Koordinatorin im Sonderschwerpunkt Förderung der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen beim Sozialdienst katholischer Frauen Wesel, "vor allem, wenn die Kinder keine weitere Unterstützung erfahren".

Selbsthilfegruppe in Wesel

Einmal pro Monat trifft sich Jessica mit anderen Betroffenen in der Selbsthilfegruppe in Wesel. Es ist die einzige Gruppe zu dieser Thematik in Nordrhein-Westfalen. "Dieses Gefühl, nicht alleine zu sein, bestärkt die Teilnehmer. Sie lernen, ihre Gefühle auszudrücken und bekommen Raum, um sich offen über ihre Schwierigkeiten auszutauschen", sagt Sandra Tinnefeld, Fachkraft Selbsthilfeunterstützung bei der Selbsthilfe-Kontaktstelle Kreis Wesel.

Gefangen in einem Lügenkonstrukt

Bis Jessica Tepass 35 war, war ihr Leben geprägt von Versagensängsten und Schummeleien. "In der Schule habe ich mich immer rausgeredet: ,Ich habe Kopfschmerzen' oder ,Meine Augen tun weh'", sagt sie. Jessica erzählt nicht gerne von ihrer Schulzeit, das ist ihr deutlich anzumerken. Nur, dass sie in der Schule "dicht gemacht" habe, erwähnt sie. In der zehnten Klasse ging Jessica ohne Abschluss von der Schule ab.

Ein-Euro-Jobs

Die Weselerin begann eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin. Auch hier die gleichen Probleme wegen ihrer geringen Lese- und Schreibfertigkeiten. Die waren aber nicht der Grund, weshalb Jessica die Ausbildung schließlich abbrach, sondern ihre erste Schwangerschaft. Sie wurde Mutter, schlug sich mit Ein-Euro-Jobs oder als Aushilfe in einer Pizzeria durch, bekam ein zweites Kind. Sie versteckte ihre Schwäche, so gut es ging, vermied Situationen, in denen sie nicht alleine zurecht kam. Immer wieder erntete sie "dumme Sprüche", wie im Supermarkt. "Das kratzt am Selbstbewusstsein und geht an die Psyche", sagt Jessica.

Auf Facebook geoutet

Irgendwann, mit Mitte 30, war sie an dem Punkt, dass sie erkannte: So kann es nicht weitergehen. Sie ging einen radikalen Weg und "outete" sich auf Facebook, wie sie selber sagt. Zu diesem Zeitpunkt wussten nur ihr Lebensgefährte und ihr Sohn von ihrer geringen Literalität. In dem sozialen Netzwerk erfuhr Jessica viel Zuspruch. Der machte ihr Mut, und sie entschloss sich, einen Alphabetisierungskurs bei der Volkshochschule zu besuchen.

Die Scham überwunden und von vorn begonnen

"Lese- und Schreibkurse gibt es an jeder Volkshochschule", sagt Jennifer Sniegon. "Trotz der großen Anzahl an Betroffenen finden aber nur wenige den Weg in einen Kurs", fügt sie hinzu. Kein Wunder, wie man an Jessicas Geschichte ablesen kann. Bis ein Mensch sein Verstecken aufgibt und seine Scham überwindet, muss schon einiges passieren. "Ich wollte selbstständiger leben, mein Selbstbewusstsein verbessern und meine Ziele angehen", erklärt Jessica ihre Motivation, mit 35 erneut die Schulbank zu drücken. Anders als in der Schulzeit fühlte sie sich in dem VHS-Kurs wohl, sie fasste Vertrauen zu der Lehrerin und schaffte es ohne Druck von außen, sondern durch eigene Motivation in nur einem Jahr lesen und schreiben zu lernen. "Ein Riesenerfolg, denn das gelingt nicht vielen in so einer kurzen Zeit", betont Jennifer Sniegon.

Das neue Leben beginnt

Ein Erfolg, der das ganze Leben von Jessica verändern sollte. Nicht nur die neu gewonnene Freiheit, auch Räume außerhalb des bekannten Umfeldes zu erkunden, genießt sie - so ist die Weselerin vor kurzem alleine mit dem Zug nach Dortmund gefahren. Sie hat vor wenigen Tagen einen Vorbereitungskurs begonnen, der sie fit für den Erwerb des Hauptschulabschlusses machen soll. Jessica möchte ihren Führerschein machen und träumt von einer Ausbildung als Betreuerin für behinderte Menschen. Der 37-Jährigen ist bewusst, dass sie auf dem Weg dorthin noch einige Schwierigkeiten überwinden muss. So hat sie gerade Bammel vor dem Schulfach Englisch. "Aber ich traue mir heute viel zu", sagt sie und lächelt.

Tipps zum Umgang mit Betroffenen

  • In Deutschland können 6,2 Millionen Erwachsene nicht richtig schreiben und/oder lesen.
  • Oft versuchen sie, die Schwäche durch Vermeidung oder Notlügen zu kaschieren, weiß Jennifer Sniegon, Koordinatorin im Sonderschwerpunkt Förderung der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen beim SkF Wesel. "Wenn immer die Brille zu Hause liegt, wenn etwas gelesen werden muss, oder das Schriftbild den Eindruck macht, gemalt statt geschrieben worden zu sein, könnte das ein Hinweis sein."
  • Jennifer Sniegon empfiehlt, das Thema im geschützten Raum und vorsichtig anzusprechen. "Kann es sein, dass du Schwierigkeiten hast, das zu lesen?" Wenn der Angesprochene bejaht, Hilfe anbieten, mit dem Hinweis, dass er oder sie nicht alleine mit seinem Problem ist. Betroffene können andere Betroffene in der Weseler Selbsthilfegruppe treffen. 
  • Weitere Infos zu den Terminen gibt es unter www.selbsthilfe-wesel.de oder unter Tel. 02841/900016 oder 0281/28267. Aber auch Angehörige sind eingeladen, sich zu melden.
6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht lesen und schreiben. | Foto: Gerd Altmann / Pixabay
Jessica Tepass: Seit sie vor zwei Jahren lesen und schreiben gelernt hat, hat sich das Leben der Weselerin zum Guten gewendet.  | Foto: Tinnefeld
Autor:

Miriam Dabitsch aus Velbert

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