„Globalisierung ist wie Schwerkraft“
Bei der CDU Werden sprach Norbert Lammert über den europäischen Einigungsprozess

Norbert Lammert sprach in den Domstuben über den europäischen Einigungsprozess.
Foto: Bangert
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Ein aktuelles Thema. Ein illustrer Gast. Die CDU Werden hat den ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages Norbert Lammert eingeladen. Er soll über Europa sprechen.

CDU-Vorsitzender Hanslothar Kranz nennt Lammert „einen der herausragenden Politiker der Nachkriegsrepublik“ und frohlockt: „Ein historischer Abend kurz vor dem 70. Geburtstag unseres Grundgesetzes.“ Kranz begrüßt „meinen langjährigen Freund Norbert“ und Paul Hoffacker sowie mit Erich Klein und Joachim Schmidt Weltkriegsveteranen. Der eine schon hundert Jahre alt, der andere nur wenig jünger. Sie akzentuieren einen wesentlichen Aspekt der Europäischen Union: Frieden. Da hakt Norbert Lammert ein: „In 2.500 Jahren hat Europa immer wieder Krieg erlebt. Immer wieder Versuche, durch Gewalt den eigenen Herrschaftsbereich zu vergrößern. Nun haben wir einen stabilen Friedensraum. Wohlgemerkt, ein Ausnahmezustand der europäischen Geschichte. Aber viele junge Menschen kennen es gar nicht anders.“ Zuerst ein wenig Zahlenmaterial: „Vor 20 Jahren Gründung der europäischen Währungsunion, vor 30 Jahren Mauerfall, seit 40 Jahren Europäisches Parlament, vor 70 Jahren wurde die Bundesrepublik gegründet und gleichzeitig ein zweiter deutscher Staat. Vor 80 Jahren überfällt die Wehrmacht Polen und vor 100 Jahren der berühmt-berüchtigte Versailler Vertrag.“

Notorisch unterschätzt

Bei so vielen bedeutsamen Jubiläen gehe das des Europäischen Parlament unter: „Das hat damals schon nicht so interessiert. Eines der notorisch unterschätzten politischen Ereignisse.“ Auch 2019 sei Europa keine feste Überzeugung der deutschen Wähler: „Eine fatale Fehleinschätzung.“ Denn viele nationale Parlamente würden sich beglückwünschen, hätten sie so viel Einfluss. Lammert formuliert zwei zugespitzte Formulierungen. Erstens: „Historisch betrachtet, hat sich Europa nie in besserer Verfassung befunden.“ Zweitens: „Nie seit Beginn des europäischen Einigungsprozesses hat sich die EU in miserabler Verfassung befunden.“ Klinge paradox, sei aber beides wahr. Nirgendwo in Europa seien Monarchen, Diktatoren oder gar Besatzer an der Macht. Das bedeute aber auch: „Für das, was wir aus diesem Europa machen, sind wir selbst verantwortlich.“ Da könne man sich nicht herausreden. Und dennoch blieben beachtliche Ratlosigkeit und wechselseitige Blockade zu konstatieren. „Wir leben in einer globalisierten Welt. Die ist größer denn je und gleichzeitig kleiner denn je. 7,5 Milliarden Menschen rücken sich auf die Pelle. Gleichzeitig veränder sich unheimlich viel, und das in enormem Tempo. Viele Menschen finden das bedrohlich. Es gibt Veränderungsängste.“ So erkläre sich der erstaunliche Zulauf populistischer Gruppen: „Die sagen: Wir stoppen das. Wir müssen das nur in die eigenen Hände nehmen. Wir müssen unsere Zuständigkeit im eigenen Land wieder herstellen. Wieder nationale Souveränität erlangen. Das ist das Geschäftsmodell der Populisten.“ Doch Digitalisierung verändere Gesellschaften: „Noch viel nachhaltiger als die Einführung von Dampfmaschine, Elektrizität oder Telefon. Information und Mobilität vernetzen die Welt. Hinter diesen Zustand werden wir nie wieder zurück können. Das stoppen wir nicht. Globalisierung ist wie die Schwerkraft. Man muss sie nicht mögen. Aber man sollte sich darauf einstellen.“

Rückkehr zum Nationalstaat?

Europa sei nun mal nicht mehr das natürliche Zentrum der Welt. Die 500 Millionen Einwohner der 28 Mitgliedsstaaten machen nur 6,8 Prozent der Weltbevölkerung aus: „Da hat kein einzelner europäischer Staat genügend Eigengewicht, um irgendetwas bewegen zu können. Die Rückkehr zum Nationalstaat ist der Rückzug in die Schrebergärten. Eine liebenswerte Marotte, aber gewiss nicht die Lösung für unsere Zukunft.“ Klimawandel sei mit den Mitteln des Nationalstaates nicht zu händeln: „Da braucht es globale Regeln.“ Und Migration? Durch die Digitalisierung wisse nun jeder 18-jährige Afrikaner um seine Zukunftsperspektiven daheim und die vermeintlich besseren in Europa. Da dürfe es erst recht keinen Rückzug geben: „Ein ernsthaftes Thema, was man nicht sich selbst überlassen darf.“ Auch der Brexit sei gesondert zu betrachten: „Großbritannien hatte immer nur Interesse am Markt, weniger an politischen Prozessen.“ Abschließend nahm Norbert Lammert sich und seine Mitmenschen in die Pflicht: „Der europäische Integrationsprozess ist eine historisch einmalige Situation und die bisher intelligenteste Antwort. Wir teilen Souveränität. Dafür gibt es keine Muster. Wenn wir das versemmeln, haben wir den Anspruch auf den Titel der dämlichsten Generation verdient.“

Autor:

Daniel Henschke aus Essen-Werden

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