Die heilige Johanna

Zehn junggebliebene Damen und ein Hahn im Korb.
Foto: Henschke
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Die Ludgerusschülerinnen des Entlassungsjahrgangs 1950 feiern Klassentreffen

„Wir nannten sie unsere heilige Johanna“. Auf ihre Klassenlehrerin lassen sie noch heute nichts kommen, das Fräulein Rocca hatte ihre Schülerinnen im Griff. Auch wenn sie es etwas übertrieb mit der Vorbereitung aufs Eheleben.

Damals, das war das neunte Schuljahr der Volksschule. Entlassungsjahrgang 1950. Die Ludgerusschule verabschiedete 42 Mädchen auf einen Schlag. Das waren noch Klassenstärken…

Der Ernst des Lebens

Das Foto ist verblichen, die sehr jungen Frauen blicken ein wenig steif und angespannt in die Kamera. Im feinsten Sonntagsstaat, gewiss. Aber kaum ein Lächeln, zu groß die Unsicherheiten so kurz nach dem Zusammenbruch des tausendjährigen Reiches: „Kommt jetzt der Ernst des Lebens? Was wird mir die Zukunft bringen?“ Ein Rückblick blieb quasi verwehrt. Der Geschichtsunterricht endete nämlich bei den Merowingern. Alles andere hatte die britische Militärregierung untersagt. Doch heimlich traute sich das Fräulein Rocca bis zu den Staufern. Der Krieg hatte in der Tat einiges durcheinander gewirbelt, es fanden sich gleich vier verschiedene Jahrgänge in einer Klasse. So erklären sich die Altersunterschiede. Wer bereits 14 Jahre alt war, konnte vorzeitig abgehen. Aber nur, wenn er schon eine Lehrstelle vorweisen konnte. Organisatorin Maja Röhr geborene Kunz ist eine der Jüngsten: „Wir Werdener sind uns ja immer wieder über den Weg gelaufen. Auf dem Markt, bei Feiern, in der Kirche, immer häufiger in den Ärztewartezimmern.“ Doch gerade die Auswärtigen hatten Sehnsucht nach ihren Leidensgenossinnen. Maja Röhr wurde auserkoren, quatschte die Ehemaligen auf der Straße an, suchte Telefonnummern heraus. Dann war es endlich soweit, die Ex-Schülerinnen fanden zusammen: „2014 haben wir es dann zum ersten Mal geschafft, uns alle wiederzusehen. Das war schön. Seitdem wiederholen wir das Treffen jährlich.“

Gemeinsame Erinnerungen

Zum vierten Mal geht es in den Domstuben um das Wohl und Wehe, um die Männer, Kinder, Enkel. Aber vor allem um Erinnerungen. Gemeinsame Erinnerungen, die nach all‘ den Jahren immer noch erstaunlich präsent sind. Dann kann man erzählen, erzählen, erzählen. Viele Namen fallen. Geschichten, die das Leben schrieb.
Wie war das jetzt mit der Vorbereitung aufs Eheleben? Das ruft Schmunzeln hervor: „Das Fräulein Johanna hatte es mit den Dichtern. Goethen besonders. Wie sie uns mit Hermann und Dorothea klar machen wollte, dass die Frau dem Manne Untertan sein soll…“ Ein Epos in neun Gesängen vom Dichterfürsten. Stolze 220 Jahre alt, dementsprechend pompös-dramatisch: Sohn reicher Eltern verliebt sich in mittelloses Mädchen aus einem Flüchtlingstreck. Nach vielen Irrungen und Wirrungen und einer klärenden Aussprache im Elternhaus kommt die Gegenseitigkeit der Liebe zutage. Unter Tränen bekommt Hermann endlich seine Dorothea. Herzschmerz pur. So was von romantisch. Doch das Fräulein Rocca hatte da die Rechnung ohne ihre Schülerinnen gemacht: Züchtig und devot? Von wegen, der knappe Kommentar lässt erahnen, dass die ehemaligen Ludgerusschülerinnen es ihren Ehegatten natürlich so leicht nicht gemacht haben: „Die Wirklichkeit im Stand der Ehe sah dann doch anders aus.“

Hahn im Korb

Zehn „Mädels“ von damals sind diesmal noch am Start. Die Lücken werden immer größer: Etliche sind nicht gesund genug für solch ein Treffen. Andere, gerade die Auswärtigen, hatten irgendwie keine Zeit. Auch sind schon zwölf der Mitschülerinnen gestorben. Zwei von ihnen waren im letzten Jahr noch fröhlich dabei, sind nun nicht mehr. Hanslothar Kranz sitzt mittendrin: „Die Damen haben mich als Schirmherren aufgenommen.“ Auch ihn entließ die Ludgerusschule 1950 ins Leben. Ein Treffen der Jungs, sie waren an die vierzig Mann in der Klasse, hat irgendwie nicht geklappt: „Zusammen mit dem Heinz Werntges habe ich nachgefragt. Nichts zu machen. Vielleicht versuche ich aber doch noch mal, meine Mitschüler zusammen zu trommeln.“ Derweil gibt Kranz mit Hingabe den Hahn im Korb, spendiert Sekt: „Ein Gläschen in Ehren kann doch keiner verwehren.“ Natürlich nicht ohne Grundlage, in den Domstuben gibt es ein feines Mittagessen. Derart gestärkt, wird weiter getöttert. Im Prinzip sind alle fit. Sind ganz schön aktiv, ihrer Turngruppe treu, gehen regelmäßig Schwimmen. Wobei das immer schwerer fällt: „Mit dem Rollator in den Bus ist gar nicht so einfach. Nicht alle stehen für uns Weißhaarige auf. Aber viele junge Leute sind sehr hilfsbereit.“

Kurz gerechnet: In drei Jahren wäre das 70-Jährige des Schulabschlusses zu begehen. Wird dann groß gefeiert? Maja Röhr schaut in die Runde und wiegt bedächtig den Kopf: „Das müssen wir noch abwarten. Wir gucken von Jahr zu Jahr, ob es noch geht. Hoffentlich sind dann noch so Viele mit von der Partie.“

Autor:

Daniel Henschke aus Essen-Werden

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