Plattgedicht ohne Platt
Der schiefe Turm der Petrikirche

Sollten nicht auch die, die kein Mölmsch Platt lesen und verstehen, etwas vom Inhalt der Gedichte eines ihrer besten Heimatlyriker erfahren?

Zugegeben, es kostet einen Verehrer des Mölmsch Platt und seiner vorrangigen Autoren einige Überwindung, sozusagen am Wesentlichen vorbei Interesse für das mundartliterarische Erbe zu wecken. Wie alle Übertragungen aus anderen Sprachen lässt natürlich auch eine wörtliche hochdeutsche Übersetzung eines Mölmsch-Platt-Gedichtes kaum etwas vom Klang und der Reimkunst des Originals erahnen.
Es ist wie eine Schwarz-Weiß-Kopie eines farbenfrohen Gemäldes, man weiß, was abgebildet ist, aber es leuchtet nicht.
Nun wäre es vielleicht zur Einschätzung der Leistung eines Plattlyrikers förderlich , wenn wenigstens der Inhalt seines Schaffens jedem zugänglich wäre. Es könnte sogar sein, dass dadurch das Interesse am künstlerisch gestalteten Mundarttext geweckt würde. Ich weiß, die Erfahrung lehrt, hier nicht zu optimistisch sein.
Deshalb wollen wir hier mal einen neuen Weg gehen. Es gibt hier nur die unkünstlerische (fast) wörtliche Übertragung und das Angebot, auf Nachfrage das Original nachzureichen.

Schiefe Kirchtürme waren landauf, landab keine Seltenheit. Die Mülheimer waren stolz auf den alten „Sche-ifen Toon“ ihrer alten Petrikirche, der ihnen in der Bombennacht 1943 genommen wurde. Wie z.B. in Hattingen rankten sich um die schiefen Kirchtürme stets zahlreiche Geschichten über die Ursache dieses Baumangels.
Chird Harderings 24-Strophen-Parabel hat dafür einen so realitätsbezogenen und plausiblen Kern, dass er es wohl vorzog, sie lieber nicht in „Innig, ssinnich, finnich“ zu veröffentlichen. Er gab Gott und den Baumeistern an der Schiefheit keine Schuld, wohl aber den Menschen, unter deren dreisten Lügen sich die Balken des Turms gebogen hätten. Selbst Gottes Optimismus, durch ehrliche Menschen würde der Turm sich doch wieder gerade aufrichten, habe sich nicht erfüllt. Rätselhaft bleibt aus dieser Sicht allerdings, warum die Mölmschen dann so sehr an ihrem „bääste Stöck Traditschon“ gehangen haben und nicht froh waren, den „Schandturm“ los zu sein.

Chird Hardering: Die Parabel vom schiefen Turm – (Die Parabel vam scheiwen Toon)
Unsere beliebte Reihe: Hochdeutsche Annäherung an ein Plattgedicht ohne das Plattgedicht

1. Dass nun schon bald eine Ewigkeit
unsere Petrikirche in Mülheim steht,
das ist wohl allen in Mülheim klar,
das ist nun bald schon nicht mehr wahr.

2. Dass aber von der Kirche der Turm
nun auch so lange schief stehen soll,
so dass er ständig umkippen will,
ist wohl so schnell nicht zu begreifen.

3. Es gibt wohl Leute, die davon reden,
dass er schon immer umfallen wollte,
aber andere wollen wieder wissen,
dass er nicht immer schief gesessen.

4. Aber einer hat es mir erzählt,
wie sich der Kirchturm schief gestellt.
Wie es wohl war, wie es gewesen,
dass der Turm schief geworden ist.

5. Und um es der Nachwelt zu erhalten,
wie es sich zu der Zeit verhalten,
griff ich zu Tinte und Papier
und schrieb es ganz genau mal nieder.

6. Ja, es war eine Hochzeit, Kückers Jan
und seine Katrien wurden Frau und Mann.
Was auch immer sie getaugt,
hat niemand hinter ihr gesucht.

7. Doch wie solche Frauen wohl mal waren,
die Faust saß dick hinter den Ohren,
war auch unsere Trina ein großes Stück
leichtsinnig und etwas mannsverrückt.

8. Auf einmal hatte sie reingetreten,
nun saß sie da, nun hatte sie was,
aber war nicht auf den Kopf gefallen
und sprach mal mit Jan Kückes.

9. Und sagte, er würde es ja noch wissen,
wie sie mal mit ihm gesessen
vor ein paar Wochen und hinter der Tür,
sie wollte ihn noch abwehren, sie konnte nicht dafür.

10. Er hätte auch geschworen, sie zu heiraten
Und da würde sie nun sicher und heilig drauf bauen.
Aber nun würde es aber langsam Zeit,
wenn man bei ihr schon langsam was sieht.

11. Ja, der mit dem Holzhammer beschlagen,
der gibt alles zu und vier Wochen drauf
stehen sie schon vor dem Traualtar
als sein ehrbares Hochzeitspaar.

12. Jan in seinen besten Sonntagskleidern
Ein Myrthensträußchen in seinem Knopfloch vorne,
Trien in Schleier und in weiß
als brächte sie noch die Unschuld mit.

13. Als nun der Pastor wollte den Segen sprechen,
hörte man oben im Dachstuhl etwas brechen:
hörte man Poltern, hörte man Krachen,
als wäre der Teufel am Kleinholz machen.

14. Hörte man Brechen, hörte Toben,
als wäre der Teufel sich am Lausen.
Dazwischen hörte man des Küsters Stimme:
“Der Turm fällt um!” “Der Turm fällt um!”

15. Am Ende hörte man von oben herab
eine Stimme wie aus einem Grab,
eine Stimme wie ein Donnerschlag
eine Stimme wie am jüngsten Tag:

16.„Wehe, wehe, große Sünde,
höre, Braut, was ich verkünde,
höre Braut, was ich dir sage,
höre, wie ich dich verklage:

17. Du hast doch in deinem Leben
deine Unschuld schon vergeben.
Dennoch kommst in Kranz und Schleier
Zu der eignen Hochzeitsfeier!

18. Dass du also hast gelogen,
Hast du Balken krumm gebogen
und den Kirchturm schief gestellt,
bis er mal zusammenfällt.
19. Aber mit der Zeit
eine erste reine Maid
wird zum Traualtare gehen,
und der Turm wird wieder gerade stehen.

20. Die Ehrlichkeit, die war vergangen,
der Turm hat immer schief gehangen,
wieviel sich drunter trauen ließen,
wer kann es sagen, kann es wissen.

21. Manch Brautpaar hat den Weg gefunden
zur Petrikirche und sich gebunden.
Es hat noch niemals mal geklappt,
dass sich der Turm wieder grade gesetzt.

22. Im letzten Krieg vor Jahr und Tag,
da ging in schwerer Bombennacht
in Not und Tot, in Brand und Feuer
der Turm mit unter, durch das Feuer.

23. Es wurde in den Jahren nach dem Krieg
die Petrikirche wieder aufgerichtet,
der schiefe Turm wurde uns geklaut,
der wurde lotrecht aufgebaut.

24. Unser Mülheim verlor mit dem schiefen Turm,
das beste Stück seiner Tradition,
und nur der Hahn ist noch da,
den fand man später irgendwo.

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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