Die Januarfliege - Eine wahre Geschichte

Foto: wikipedia, gemeinfrei/ Firla

Im Januar ist es noch viel zu kalt für Stubenfliegen. Das gilt in besonderem Maße für Schlafstubenfliegen. Also war ich ziemlich sicher, mich gründlich verhört zu haben, als es hinter meinem Einschlafbuch surrte. Aber es wiederholte sich. Ich entschloss mich schweren Herzens zur Unterbrechung der Lektüre, hob das Buch etwas über meine gewölbte Brust, auf der ich es gewöhnlich zur Entlastung der Muskulatur sowie der Kurzsichtigkeit gerne aufgestützt halte, und verschaffte mir mit einem kritischen Blick dahinter Klarheit über eventuelle Sinnestäuschungen. Ich sah und hörte nichts. Es war also doch pure Einbildung gewesen! Oder nahm die Fliege, während ich auf dieser Seite las, andererseits gerade den Buchtitel auf dem Einband in ihren facettenreichen Augenschein?
Es dauerte nicht lange, und ich hatte Gewissheit. Jetzt nahm sie nämlich über die Finger meiner linken Hand Kontakt zu mir auf. Ich fühlte sie bereits einige Zeit, ehe ich sie zu Gesicht bekam. Zunächst stellte ich mich stur und sie mich dafür auf eine harte Geduldsprobe. Sie schien es nicht gerade eilig zu haben, kitzelte ausführlich über den Handrücken, ehe sie sich dem linken Buchhalterdaumen zuwandte. Hatte sie der Titel doch so neugierig gemacht, dass sie nun einen Blick ins Buchinnere riskieren wollte?
Schließlich nahm sie auf meinem Daumennagel Platz und glotzte zu den Buchstaben hinab. Es währte nicht lange. Ich vermochte meinen angeborenen Fliegenabwehrtrieb nicht länger zu zügeln. Aber schon während ich sie abschüttelte, befiel mich gleich ein Bedauern, ihr die Lektüre verwehrt zu haben, ehe sie damit richtig begonnen hatte. Ich fand vorläufig Trost in dem Argument, dass ich immerhin schon bis auf Seite 90 fortgeschritten war, und sie von mir nicht verlangen konnte, wegen ihr noch mal von vorne zu beginnen.
Nun blieb ich zwar bei meiner weiteren Lektüre von akustischen und taktilen Ablenkungen verschont, fühlte mich aber irgendwie beobachtet. Intuitiv ging mein Blick an die schräge Zimmerdecke, die direkt über mir firstwärts strebt. Und tatsächlich, da saß sie. Sie schien erstaunlich gute Augen zu haben und nicht auf das fliegenübliche Lesen mit sämtlichen Beinen angewiesen zu sein. Oder suchte sie ganz einfach Gesellschaft? Nun, gut, es sollte ihr gegönnt sein. Wenn sie nur nicht weiter stören würde. Es war ja auch gemütlicher zu zweit.
Etwa bei Seite 110 wurde sie unruhig. Sie wandte sich trotz der menschlichen Wärme, die ich ihr u.a. durch die gemeinschaftliche Nutzung meiner Lektüre - inklusive Umblätterservice - entgegenbrachte, der Nachttischlampe zu. Und die war hell und warm!
Sitzen Sie mal im Januar nackt an der schrägen Wand eines nur leicht geheizten Schlafzimmers! Würden Sie nicht auch etwas frieren? Gut, ich hätte die zitternde Fliege von Zeit zu Zeit etwas unter meine Bettdecke, die mir bis zur Nasenspitze reichte, einlassen können. Sagte ich mir hinterher. Aber dann hätte sie womöglich die spannendsten Seiten nicht mitbekommen. Und selbstverständlich wäre ein gemeinsames Lesen im Schein einer Taschenlampe unter der warmen Bettdecke unterhaltsamer und zugleich gesünder für sie gewesen. Jedenfalls fühlte ich mich im Angesichte des tragischen Geschehens, das nunmehr in zwei Akten seinen unheilvollen Lauf nehmen sollte, nicht gänzlich frei von Schuld. Das müssen Sie mir einfach abnehmen!
Vielleicht hatte mich eine äußerst fesselnde Passage der rauhen Zimmerwirklichkeit so weit entrückt, daß ich erst aufmerksam wurde, als sie bereits im Nachttischlämpchen herumsurrte. Als meine Augen aufgeschreckt-widerwillig nach ihr suchten, saß sie nachdenklich an der Zimmerschräge im näheren Lichtkegel der 60 Watt - Birne, deren Gravitation sie gerade noch einmal entkommen war.
Wenn ich zu diesem Zeitpunkt auch nur ansatzweise geahnt hätte, welche magische Wirkung von einer hellen, heißen Birne im Januar auf Stubenfliegen ausstrahlt, ich hätte augenblicklich die Lampe abgeschaltet. Aber irgendwie setzten sich bei mir die Müdigkeit und der Eindruck durch, sie habe sich nur kurz aufwärmen wollen, um sich dann wieder der Lektüre zuzuwenden. Und dazu brauchte sie genau wie ich ja nun mal das Licht.
Ich blätterte gerade von 125 auf 126 um, da surrte es erneut. Diesmal etwas länger und lauter. Dann fiel sie aus dem Schirm. Pfeilartig schoß mein Kopf hoch zum Nachttisch. Da lag sie. Auf dem Rücken. Steif und still. Noch original schwarzglänzend und nicht im Mindesten verbrannt. Ich vermutete Herzversagen durch Hitzschlag als Todesursache. Sie hinterließ einen einsamen Leser, der das Lesen bald einstellte, weil ihm die Lust vergangen war. Es war auch nicht mehr so gemütlich - ohne Fliege. Spürbar kälter und totenstill. Mein Kopf verschwand fröstelnd unter der Decke und überlegte, wie er mein Gewissen am besten entlasten könnte.
Gerade noch rechtzeitig vor dem Einschlafen fiel es ihm ein: War es nicht ohnehin ihr Lebensabend gewesen? Wenn das Schicksal sie schon in einen bitterkalten Januar hineingeboren hatte, wollte sie es offenbar wenigstens einmal in ihrem Leben richtig warm gehabt.

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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