Warten auf Emails

Foto: Franz B. Firla

Kurzbeschreibung des Inhalts: Der Sinn eines Briefes ist die Antwort, das hat sich auch bei Emails nicht grundlegend geändert, sogar Spam hofft darauf. Wer also an einem Vormittag 6 Emails schreibt, erwartet einiges, und am liebsten umgehend. Wie aber sieht die Wirklichkeit aus?  Und beschreibt  "Warten auf Emails" darüber hinaus nicht die Grundsituation des modernen Menschen? Dazu hier eine ziemlich Langzeitstudie:

Es war so ein blöder Freitagnachmittag Ende November. Die Antworten auf sechs Emails, die ich am Vormittag losgeschickt hatte, standen aus und ich war schon zunehmend nervös und enttäuscht, als sich auch nach Stunden immer noch nichts tat.
Selbst beantworte ich Emails meistens umgehend oder wenigstens in den nächsten Stunden, es sei denn, ich will jemanden ärgern.
Freitagnachmittag ist natürlich schwierig: Aufbruch ins Wochenende für alle anderen außer mir. Ich breche nicht mehr auf, ich bin schon da. Aber kennen Emails wirklich Wochenende? Fast jeder bekommt seine Emails auf den Leib gesendet und trägt sie mit sich rum. Er kann sie lesen oder ignorieren, beantworten oder es auch lassen.
Im Bundesrat an jenem Tag stimmte man dem Coronagesetz der Ampel zu, sonst schien in der „Parallelwelt minus ich“ gerade nichts Wichtiges zu passieren.
Und so las ich in einem der drei Hundebücher, deren Lektüre ich gleichzeitig angebrochen hatte. Dazu trank ich Salbeitee in kleinen Schlücken gegen Schluckbeschwerden = dicken Hals.
Zwischendurch Hundespaziergang mit von der Partnerin empfohlenem Ilexzweigsammeln, die mit den roten Dingern dran, für Adventsgestecke mit Tannengrün. Im Gedächtnis blieb die Begegnung mit dem Hundeseniorenclub. Fünf Hunde waren es. Die alte Frau führte sie aus, drei an langen Leinen, zwei trotteten, ja humpelten fast hinterher. Viele Male wohl blieb die Seniorentruppe bei anderen Hundehaltern stehen und sie erklärte ausführlich die Krankheiten der einzelnen Gruppenmitglieder. Dann zottelten sie weiter. Ihre auffällige Schwerfälligkeit war irgendwie bewegend.
Zu Hause dann immer noch keine Antworten auf mein E-mails. Während ich das hier tippe, schaue ich ab und an auf das leere Symbol für eingetroffene E-mails und hoffe idiotischerweise auf mindestens ein Wunder.
Sollte ich, des Lesens müde, nur so herumdösen und ab und an das Symbol am Laptop anblinzeln? So bis 6, dann würde ich den Hund füttern und ginge zum Fernseher.
Dann leuchtete das Symbol tatsächlich auf: 1 Mail.
Ich tippte auf K., da I. mir gerade die Noten von dem Pinoccio-Lied „If you wish upon a star“ gebracht hatte, das K. dieses Jahr zu Weihnachten singen will. „Definitiv sehenswert“, schreibt sie zu den alten Familien-Fotos, die ich ihr vor dem Löschen zugesandt hatte.
In der Nacht bekam ich echte Bauchschmerzen, es saß was quer: Nüsse, Plätzchen?
Am Morgen immerhin ein Lobeskommentar zu einer Fotoeinstellung beim Lokalkompass, aber nichts von Hannelore, Theo, Inge, Jens und Paul.
Gut, man könnte sie alle anrufen. Ich mache das nicht. „Ich hab dir eine Mail geschickt“. Find ich doof. Dann kann man ja gleich anrufen.
Die beiden Erstgenannten habe ich länger nicht kontaktiert. Da muss man sich gerade unter den derzeitigen Bedingungen Sorgen machen, die eine fast alt, der andere sehr alt. Ich weiß auch nicht wie es bei Inge mit der Vulnerabilität steht, die ja im Grunde jede und jeden betrifft, also auch Jens und Paul.
Im Grunde geht es mir in diesem finsteren, ja hoffnungslosen November, schlicht um ihre Meinung zu meinem „Plattcast“. Zumindest bei Hannelore und Theo, und Paul ist damit schon länger überfällig.
So bin ich vor dem Frühstück schon gespannt, ob sich mein Problem bald lösen wird. Und was ist, wenn mir die Kritik an meinem „Schwyzerdütsch op Mölmsch Platt“ überhaupt nicht gefällt? Es finden bestimmt nicht alle lustig. Und in diesem erneut finsteren, hoffnungslosen Corona-November vielleicht schon gar nicht. Vielleicht ist das lange Zögern ja schon die Antwort.
Dann gegen 9:26 an diesem 20.11. sah ich mir die Seiten mit den 100.000 kleinen Kreuzchen an, auf vier SZ-Seite verteilt, jene Zahl an Toten, die nun bald erreicht sein wird, und dazu ein paar erschütternde Protokolle von 15 Einzelschicksalen.
Dass ich überhaupt auf Email-Antworten hoffen durfte, machte mich richtig froh.
In guter Stimmung installierte ich im Hinblick auf den Advent eine neuerworbene Lichterkette auf der Terrasse.
Und E-mails kamen bald, aber nicht die Erwarteten. DHL-Ankündigungen und jemand, der mir auf Lokalkompass folgen möchte. Dann wieder sehr lange nichts, dann zwei Kommentare zu LK-Beiträgen. Um 17.00 schreibt der Baas von „Aul Ssaan“ noch etwas zum OB-Treffen.
Sonntagmorgen zunächst völlig emailfrei, ich höre bewusst Van Morrisons „Nobody in charge“.
Dreimal. Dann Tote-Meer-Bad-Entspannung. Auch ganz bewusst, aber nur eine Tüte Salz. Damit schwimmt man noch nicht an der Oberfläche.
Wunderbar vergangen sind danach irgendwelche Gedanken an Emails, wenn auch nicht an Briefe allgemein. Mir fällt vermehrt Vermeer ein, ein Mädchen am Fenster liest einen Brief. Warum dieser riesige Vorhang rechts? Was steckt dahinter? Natürlich ihre Mutter, die Elise. Ich lasse sie im Rücken ihrer Tochter daraus hervorlugen, sich vorbeugen und mitlesen. Mit dem Cutoff-Programm ist das fix gemacht. Das Vermeer – Triptychon. Durch Röntgenstrahlen in verschiedenen Schichten freigelegte übermalte Bildvarianten des Meisters!
Gut, danach spielte ich am Klavier die Pinoccio-Sülze „If you wish upon a star“. Meine Frau eilte herbei und plötzlich sangen wir im Duett völlig unverständliches Englisch, eben gerade so, wie es uns unsere abnehmende Sehkraft beim Blick auf die Textzeilen unter den Noten erlaubte.
Gefällt mir immer besser, weil der harmonische Sprung von B nach G (Sextsprung) hat mir schon immer gefallen, ohne ihn wäre das Lied einfach nur Schnulzenschrott.
Bisschen Nore-Pleis-Mails noch, sonst ruhig. Las ganz entspannt in Edgar Selges Autobiographie. Vater musikliebender Gefängnisdirektor: Rohrstock neben Weihnachtsplätzchen griffbereit auf dem Schlafzimmerschrank.
Dann wieder Hundetour rund um den Pferdehof in Selbeck, Kaffeetrinken mit anschließender Massagepistolen-Anwendung und Nackenkraulen. Danke!
Ich habe eigentlich heute Abend keine Lust auf die ganzen Impfsendungen, freu mich auf den Ulrich-Tukur-Tatort. Aber man hört fast durch die Fensterscheiben wie sie immer erfolgloser um die Impfpflicht winden.
Vorläufig amüsiere ich mich köstlich an Selges Schilderungen der Fahrschulkatastrophen seiner Mutter, die nach 250 Fahrstunden in das Schaufenster eines Handarbeitsgeschäftes fährt und dort die Weihnachtsdeko samt Bethlehems Stall zerstört.
Jetzt wäre mal wieder Musik fällig: Josquin Desprez, Hilliard-Ensemble
Ich finde immer mehr Einzeleile einer Kopfschmerztablette unter meinem Kopfkissen. So wird das normalerweise nichts. Ich habe aber seltsamerweise keine Kopfschmerzen. Der Wirkungszusammenhang erschließt sich mir im Augenblick noch nicht.
Der neue Bergkräutertee heißt Alpenkräutertee, schmeckt wie ein gehobener Bergkräutertee, jedenfalls Wohlgefühl um sich verbreitend, ja, man mag ihn gerne in sich haben,
Später bei Anne Will diskutierte man wieder über die Dauerbrenner hätte, müsste, sollte, täte…
Der Montag schickt als erste Mail eine Amazonankündigung. Ob in Erbach/Odenwald eine Glosse von mir erschienen ist, erfahre ich ab 6 Uhr bei GENIOS beim ersten Gang zur Toilette.
Danach schließt sich die Morgenstund‘ mit Gold im Mund an, wo sich im Halbschlaf erstaunliche Ideen entwickeln, die mich mitunter knallwach werden lassen und mich manchmal treiben, schon mit der Umsetzung oder wenigstens Vorbereitung zu beginnen.
Heute aber treibt nichts, sodass sich der Halbschlaf bequem zum Dreiviertelschlaf steigern ließe, wenn nicht da gelegentlich ein Magenknurren die Vorfreude an den gestern gebackenen Stuten anheizen würde.
Die Onlineausgabe der Schweizer Tageszeitung „Der Bund“ meldet sich per Mail gegen sieben.
Ursprünglich abonniert wegen Gerhard Meisters Mundartbeiträgen, ist sie mir eine tägliche Abwechslung zum deutschen journalistischen Blickwinkels.
Die Bimmel-Glocke vom „Dömchen“ höre ich trotz meiner Schwerhörigkeit meist noch, wenn auch ohne die hohen Frequenzen, die muss ich mir halt hinzuphantasieren oder die Lauscher aufstellen.
Der frischgebackene Stollen war eine Wucht. Im SZ-Feuilleton interessiert mich zum ersten Mal die Wirkungsweise des nRNA-Impfstoffes. Er dringt nicht in den Zellkern ein, er verändern nicht das Erbgut. Er bleibt nicht einmal lange im Körper, er trainiert nur die Abwehrzellen des Körpers, mit dem Virus fertig zu werden und verschwindet dann. Ein viel zu wenig gewürdigtes Wunder in dem ganzen Impfchaos.
Nach 9 schmücke ich den kugeligen Busch im Vorgarten mit einer neuen Lichterkette und stelle im Keller die Zeitschaltuhr ein. Ich war sonst immer dafür, alle Weihnachtsbeleuchtung am 1. Advent beginnen zu lassen; der diesjährige November kommt mir aber derart schummrig vor, dass man die „Lichttherapie“ gegen Abend gut gebrauchen kann.
Dann lade ich eine Jazz-Version von „When you wish upon a star“ mit Sonny Stitt herunter.
10 Uhr ist eigentlich eine schöne Zeit, um zu Beginn einer Woche ein Email zu beantworten. Aber es kommt nichts.
Die Erwartungslatte muss höher gelegt werden: 11 Uhr. Ich arbeite derweil an meinem neuen Glossenheft und habe schnell bis auf die letzte Seite alles zum „Umladen“ auf die nummerierten DIN-A-5-Seiten vorbereitet. Da kommt mir der willkommene Gedanke, die letzte Seite mit Gedanken zu füllen. Die habe ich ja nummeriert und brauche sie nur noch rein zu kopieren.

Warum warte ich immer noch auf die Antworten? Vielleicht kommt statt „gut gemacht“ nur der Wunsch, was ganz Anderes zu machen, wozu man dann keine Lust hat?

Manchmal denke ich, die Zurückhaltung könnte womöglich von einer übertriebenen Furcht herrühren, den Adressaten durch ominöse Emailosole zu infizieren?

16.22 – W. schreibt eine Mail, er will angerufen werden.

Ich habe es geahnt, ich soll der sein, der handelt: Foto-Simulation eines Standortes für ein Schild.
Gut, dann fangen wir morgen damit an.

Die Emailantwort von Inge hat  der B. gleich miterledigt, sie werden das „Kleine“ haben wollen,
und es stehen also nur noch vier Antworten aus.

Dass mit dem ausgefallenen vorweihnachtlichen Wildessen wieder eine Möglichkeit dahin ist, etwas Mölmsch Platt vorzutragen, bringt mir jetzt doch am eigenen Schicksal zu Bewusstsein, dass das Virus nicht nur ins Vereinswesen, sondern in die Betriebe und in die Familien zerstörerisch eingreift und die ausgebliebenen Reaktionen noch längere Zeit oder für immer ausbleiben könnten.

Manchmal habe ich den Eindruck, je trüber das Wetter, desto  länger dauern die Antworten. Dabei müsste es doch eigentlich umgekehrt sein.

Falls trotzdem noch Antworten kommen sollten,

ich werde es hier oder in den Kommentaren 

nachtragen …

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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