Bernhard Schlinks Roman „Die Enkelin“
Der verständnisvolle Kaspar

Der inzwischen 77-jährige Bernhard Schlink hält in seinem neuen Roman mehr als dreißig Jahre nach dem Mauerfall ein leidenschaftliches Plädoyer für ein verständnisvolles, vorurteilsfreies Miteinander. „Versöhnen, nicht spalten“, lautete einst die Losung des Ex-Bundespräsidenten Johannes Rau. Und auf einen Rund-um-Versöhnungskurs schickt Schlink auch den männlichen Protagonisten seines Romans, den Buchhändler Kaspar.

Irgendwie schafft es dieser Autor immer wieder, aktuelle, kontrovers diskutierte gesellschaftliche Probleme in seine Romane einfließen zu lassen. Schlink war immerhin schon Mitte 40, als er seinen ersten Roman vorlegte, war bis zu seinem 65. Lebensjahr nicht einmal Berufsschriftsteller, und doch hat er mit „Der Vorleser“ (1995) einen der (vor allem auch international) erfolgreichsten deutschen Romane der letzten 30 Jahre geschrieben. Schlink war fast 20 Jahre Richter am Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster und wurde 2009 als Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der TU Berlin emeritiert.
Sein Protagonist Kaspar hat die siebzig inzwischen überschritten und ist verwitwet. Mitte der 1960er Jahre hatte er als junger Student seiner späteren Ehefrau Birgit bei der Flucht aus der DDR geholfen. Ein tiefer Einschnitt in die Biografie, und so verschwieg Birgit auch die Existenz einer Tochter, die kurz vor ihrer Flucht geboren und von ihr einer Freundin übergeben wurde. „Schuld ist ein Lebensthema. Es ist nicht das Lebensthema, und es ist auch nicht das Thema meiner Bücher, sondern nur eines“, hatte Schlink 2018 in einem Deutschlandfunk-Interview erklärt.
Zwei radikale Zäsuren prägten also Birgits Neuanfang im Westen. Es war ein Leben voller Leidenschaft und Enttäuschung, voll Freiheitsglück und Heimatverlust. Ein kaum zu greifenden „Ja-aber-Gefühl“ prägte ihren Alltag an Kaspars Seite.
Als Birgit stirbt, sucht Kaspar Halt in seiner Buchhandlung. Er findet beim Sortieren des Nachlasses ein autobiografisches Manuskript mit Hinweisen auf die Existenz einer Tochter. Was Kaspar wirklich antreibt, die (ihm verschwiegene) Familie seiner verstorbenen Frau kennenzulernen, ist offensichtlich eine Mischung aus Trauer, Zorn und Neugier. Restlos überzeugend wirkt diese Figur nicht, aber Kaspar ist eben kein ganz normaler Zeitgenosse, sondern ein extrem tugendhafter Schlink-Protagonist mit löblichem positiven Weltbild.
Er macht sich auf den Weg, findet Birgits Tochter Svenja, die einige Jahre DDR-Jugendgefängnis hinter sich hat, und deren Tochter Sigrun. Mit Svenjas Ehemann Björn tummeln sie sich in einem dubiosen rechtsnationalen Milieu in der mecklenburgischen Provinz, in dem beharrlich der Holocaust geleugnet wird. Schlagworte wie Heimat, Ideale, Hoffnung und Enttäuschung erhalten hier einen tiefbraunen, nationalistischen Anstrich.
Schlink hat hervorragend beobachtet, seine Schilderungen dieses Milieus wirken absolut authentisch – bis hin zu den kruden Parolen. Birgits Tochter Svenja lehnt jeden Kontakt zu Kaspar ab, der aber über die 14-jährige Sigrun dennoch einen Fuß in der Tür zur Familie behält.
Kaspars Stiefenkelin ist politisch interessiert, aber völlig verblendet. Sie verehrt Rudolf Hess und verbreitet schlimmes rassistisches Gedankengut. Kaspars versöhnender Brückenschlag wirkt wie der Versuch eines Spagats einer in die Jahre gekommenen Kunstturnerin. Es war gut gemeint, aber es bereitet Schmerzen beim Lesen. Es zieht und brennt im Kopf des Lesers, wenn er dem so verständnisvollen „Onkel“ bei seiner Anbiederung an die pubertierende Göre folgt. Für eine stattliche fünfstellige Summe verbringt sie einen Teil der Ferien bei Kaspar, wird durch Museen, Opernhäuser und Konzerthallen geschleift, lernt Literatur und Musik kennen und beweist beachtliches Talent beim Schach und auf dem Klavier.
Ja, Kaspar will mit ihr diskutieren, sie nicht belehren, wähnt sich auf einem guten Weg, bis er erfahren muss, dass sich Sigrun einer gewaltbereiten rechten Kampftruppe angeschlossen hat und in schwere Straftaten verwickelt ist.
„Die Enkelin“ ist wieder einmal schlink-typisch mit großer Verve erzählt, der Spannungsbogen hält lange an, aber dennoch wird man mit keiner dieser Figuren so richtig warm. „Ich lebe mit ihnen, ich liebe sie, und wenn das Buch fertig ist, sind sie weg, und der Abschied tut weh“, hat Bernhard Schlink kürzlich über sein Romanpersonal erklärt. Beim Leser hält sich diesmal der Abschiedsschmerz in Grenzen. Gut gemeint, ist nicht immer gut gemacht.

Bernhard Schlink: Die Enkelin. Roman. Diogenes Verlag, Zürích 2021, 368 Seiten, 25 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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