Am Ball vorbei (7.Juni): Reich mir doch mal den Kaffeesatz

"Am Ball vorbei" - das ist eine Kolumne zum Geschehen auf und neben den Plätzen in Polen und der Ukraine. Mit knallharten Analysen und wirren Gedanken zur schönsten Nebensache der Welt.

Wahrsager, Wissenschaftler und maritime Orakel – sie alle haben wieder Hochkonjunktur. Da will ich mich zum Einstand nicht lumpen lassen und spendiere eine Runde Prognosen für die Vorrunde. Geht aufs Haus, ehrlich. Aber ohne Gewähr. Nur für den Fall, dass man mich nachher für in den Sand gesetzte Systemwetten haftbar machen will.

Pattsituation in Osten

Gruppe A: Wäre der Weltfußball ein Orchester, dann würden Polen, Griechenland, Russland und Tschechien allesamt die zweite Geige spielen. Was die Gruppe A auf dem Papier zur wohl ausgeglichensten des Turniers macht. Leicht favorisiert sind allenfalls die Polen, und das allein aufgrund des Heimvorteils. Hoffnungsträger sind Lukas Piszczek, Jakub Blaszczykowski und Robert Lewandowski, die mit den Dortmundern national eine überragende Saison gespielt haben. Bei der Europameisterschaft geht es, um es mit den Worten von Jögi Löw zu sagen, aber nicht gegen „Hoffenheim, Nürnberg und so weiter“, weshalb das Trio seine Klasse unter Beweis stellen muss. Dass man in unserem Nachbarn das Fehlen von Slawomir Peszko beweint, der nach dieser Saison vorerst als doppelter Trunkenbold eines kläglichen Absteigers in Erinnerung bleibt, zeigt, dass es ein bisschen mehr braucht, um in den erlauchten Kreis der Geheimfavoriten aufgenommen zu werden.

Zumal die Abwehr als Problemzone gilt. Da trifft es sich gut, das der Auftaktgegner offensiv nicht für Angst und Schrecken sorgt. Griechenland tritt mit der Empfehlung von 14 Treffern in der Qualifikation an – nur die Tschechen trafen seltener (12 Tore), die in ihrer Fünfergruppe allerdings zwei Qualifikationsspiele weniger absolvierten. Allein die Trefferquoten der Stürmer lesen sich wie die Bewerbungsschreiben der konsequenten Torverweigerer. Nikos Liberopoulos, der erfahrenste Angreifer, erzielte in 73 Länderspielen 13 Tore, Dimitrios Salpingidis und Georgios Samaras trafen in jeweils etwas mehr als 50 Partien sechs- bzw. siebenmal und „Nesthäcken“ Kostas Mitroglou (mit 24 Jahren) wartet nach elf Einsätzen noch immer auf seinen ersten Torerfolg im Griechen-Dress. Wäre da nicht Theofanis Gekas (56 Spiele/21 Tore – Abwehrhüne Kyriakos Papadopoulos (S04) brächte die beste Torquote (3,5 – 7 Spiele, 2 Tore) mit. Sollte es für den ehemaligen Bundesligatorschützenkönig aber nichts zum Abstauben geben, sind die Griechenlandanleihen schnell verbrannt.

Komplettiert wird die Ostblock-Gruppe von Russland und Tschechien. Der russische Hurra-Fußball bei der EM 2008 ist etwas verblasst, nach Testspiel-Blamagen wie gegen den Iran (0:1), Katar (1:1) oder Litauen (0:0). Dick Advokat hat es schwer, in die Fußstapfen seines Vorgängers Guus Hiddink zu treten. Allerdings ließ sein Team kurz vor der Eröffnungsfeier in Warschau mit einem 3:0 über Italien aufhorchen. Ob dieses Resultat nun für die Stärke der Russen oder aber für die Unsicherheit der Squadra Azzurra steht, das wissen wir spätestens in vierzehn Tagen.

Bei den Tschechen ist der Lack schon länger abgeblättert, seit der goldenen Generation um Pavel Nedved, Vladimir Smicer, Karel Poborsky und Patrik Berger. Bestes Ergebnis nach dem Vize-Europameistertitel 1996 war der Halbfinaleinzug 2004 in Portugal, der aber durch die Schwäche der deutschen Nationalmannschaft begünstigt war, als eine B-Elf ausreichte, um das Team von Tante Käthe Völler vorzeitig aus dem Turnier zu kegeln. Im Viertelfinale besiegte man damals Dänemark. Viele Akteure aus dem aktuellen Kader spielen in der heimischen Liga, hinzu kommen die fünf Deutschland-Legionäre Drobny (HSV), Hubnik (Hertha), Kadlec (Leverkusen), Jiracek (Wolfsburg) und Pekhart (Nürnberg). Champions-League-Format besitzen nur Torhüter Petr Cech (im wahrsten Sinne des Wortes) und Mittelfeld-Refisseur Thomas Rosicky (wenn nicht verletzt). So präsentieren sich die Tschechen eher als ein Team der Namenlosen. Das war vor der EM 1996 aber auch nicht anders.

Prognose: Die Polen werden im Auftakt-Match den Rückstand durch Kyriakos Papadopoulos wegstecken, das griechische Abwehrbollwerk knacken und so die Euphorie im eigenen Land entfachen. Die alternde Offensive um Andrey Arshavin, Roman Pavlyuchenko und Pavel Pogrebnyak kommt in einer dankbaren Gruppe nochmal in Fahrt. Polen und Russland spielen auf ehemaligem Territorium um den Gruppensieg, Tschechien und Griechenland fliegen raus.

Eine Gruppe, um sie zu knechten

Gruppe B: Neben Gruppe C und D die Todesgruppe. Deutschland scheint reif für den Titel, auch wenn in den Testspielen der Wurm drin war. Und schon befürchten die deutschen Berufspessimisten die vorzeitige Heimreise. Dabei war das 3:5 gegen die Schweiz der intensiven Vorbereitung, einer Aufstellung, die wir so nie wieder sehen werden, sowie der Verletzungsangst einiger Akteure geschuldet. Der Test in Leipzig gegen Israel würde unnötig zerredet. Weil man einen kleinen Gegner anstatt mit 5:0 nur mit 2:0 abgefertigt hat. Dass das Spiel gut und gerne, im Vollbesitz geistiger und körperlicher Frische, 5:0 hätte ausgehen können, wurde im Blätterwald galant verschwiegen.

Natürlich gehört Deutschland nach wie vor zu den Turnierfavoriten. Das Mittelfeld, ich zähle die zweite Garnitur mit, gehört zu den Besten, was das Panini-Album zu bieten hat. Die Abwehr bereitet Sorgen, laut Kicker-Sonderheft teilen wir diese Sorgen allerdings mit 15 anderen Nationen. Passt alles, ist das Maximum drin, auch weil der Bayern-Block nach der herben Champions League-Niederlage im Finale mit einer Jetzt-Erst-Recht-Attitüde antritt. Sollten wir ins Elfmeterschießen geraten, revidiere ich diese Meinung aber wieder.

„Mit Holland fahr’n wir zur EM“ – leider. Nicht etwa weil ich unseren Nachbarn ein EM-freien Sommer gönnen würde. Nein, der Gedanke an Oranje bereitet Bauchschmerzen, da hilft auch keine Iberogast in Form des 3:0-Testspielerfolges aus dem November 2011. Gut, dass sich Bondscoach Bert van Marwijk wohl zwischen Robin van Persie und Klaas-Jan Hunterlaar entscheidet, zwei Stürmer dieses Kalibers möchte ich nicht gegen unsere Verteidigung anrennen sehen. Im ewigen Duell zwischen Deutschland und Niederlanden stehen die Chancen 70:50 und sollte die Legat’sche Formel nicht aufgehen, wird’s nochmal eng.

Denn Danish Dynamite halte ich für stärker als den Running Gag unter den Geheimfavoriten, Portugal. Ein Pepe hinten drin und ein Ronaldo an der Seitenlinie reichen nicht aus, um ins Viertelfinale einzuziehen.

Prognose: Deutschland und Niederlande kommen weiter, weil sie sich im zweiten Spiel brüderlich (sofern man in diesem Duell von brüderlich sprechen kann) die Punkte teilen werden. Portugal und Dänemark spielen um die goldene Ananas.

Italien, Kroatien und Irland im Tiqui-Taca-Land

Gruppe C: Die Spanier sind satt. Munkelt man. Hat man ja in den Champions League-Halbfinals gesehen. Unbedeutend die Tatsache, dass die Spanier seit 2007 nur ein Pflichtspiel verloren haben (0:1 in der Vorrunde der EM 2010 gegen die Schweiz, KonFed-Cup zählt nicht). Und den Titel-Hattrick nach 2008 und 2010 zu erreichen, ist auch kein Anreiz. Ne Sportfreunde, auch wenn es abgeschmackt klingt: Der Weg zum Titel führt nur über Spanien. Die Mannschaft von Vicente del Bosque ist noch nicht überaltert, und spielt noch immer einen dermaßen ansehnlichen und vor allem erfolgreichen Fußball, dass es beinahe langweilig wird. Beinahe wohlgemerkt, mit Puyol und David Villa fallen verletzungsbedingt wichtige Stützen der WM-Elf von 2010 weg. Und: Die Testspiele nach der WM gegen die großen Fußballnationen Argentinien, England und Italien gingen allesamt verloren.

Mit den Italienern gibt es im Gruppe C ein Wiedersehen. Nicht dass die Italiener nach Bunga-Bunga-Berlusconi, Vatikan-Spitzelaffäre und neuerlichem Wettskandal diesem Wiederzusammenkommen euphorisiert entgegen fiebern. An eine ruhige Vorbereitung war nicht zu denken, gegen Russland präsentierte sich die Squadra Azzurra wie eine Sir Ribbeck-Gedächtnis-Rumpel-Elf gegen ein portugiesisches B-Team. Aber wir erinnern uns: Auch vor den Weltmeisterschaften 1982 und 2006 breitete sich der Wettsumpf in der Serie A aus. Und doch durften die Stiefelländer die begehrte FIFA World Cup Trophy in die Höhe strecken. Was gegen eine Wiederholung spricht: Diesmal stehen handelnde Protagonisten im Verdacht, die Staatsanwaltschaft scharrt vor dem italienischen EM-Quartier mit den Hufen.

Dagegen freuen sich die Kroaten, nach der verpassten WM in Südafrika, wieder an einem großen Turnier teilzunehmen. Der erste Auftritt nach dem brutalen Viertelfinal-K.O. gegen die Türkei 2008. Unbedingter Einsatz und eine feine Ballbehandlung sind seit jeher das Markenzeichen dieser Mannschaft, die 1998 mit dem dritten Platz bei der Weltmeisterschaft ihr bestes Ergebnis erzielte. Zu den Eigenschaften eines kroatischen Nationalteams gehört aber auch mangelnde Konstanz. Mandzukic, Pranjic, Persisic, Corluka, Simunic, Kranjcar, Iliceciv – das sind alles feine Fußballer, die aber nach schwankenden Leistungen, Verletzungen und Nichtberücksichtigungen allesamt auf eine mäßige Spielzeit zurückblicken.

Mit feinen Fußballern ist Irland eher weniger gesegnet. Abgesehen von Haudegen Robbie Keane und Torhüter Shay Given kann bei der irischen Auslese von internationalem Renommee keine Rede sein. Aber: Die Mannschaft von Giovanni Trappatoni hat Thierry Henrys Handballeinlage und damit das Relegationsaus von 2010 gut verkraftet und die Qualirunde auf Platz zwei der Gruppe B beendet. Freilich, die Konkurrenz, bestehend aus Armenien, Slowakei, Mazedonien und Andorra sowie Estland in den Play-offs, war nicht die stärkste, doch die Iren haben in der Vergangenheit bewiesen, dass sie favorisierten Teams das Leben schwer machen kann.

Prognose: Spanien schlägt zum Auftakt deutlich die Italiener, die Iren sorgen für eine Überraschung und gewinnen mit einer geschlossenen Mannschaftsleistung gegen Kroatien. Die beiden Nachbarstaaten stehen danach gewaltig unter Druck, ringen sich anschließend ein Unentschieden ab. Irland gerät im zweiten Spiel gegen Spanien moderat mit 0:3 unter die Räder. Der letzte Spieltag bietet Dramatik pur: Irland gelingt ein Remis gegen die nervlich völlig fix und fertigen Italiener, Kroatien geht gegen eine spanische B-Elf in Führung, verliert aber schlussendlich doch. Spanien und Irland ziehen in die Finalrunde ein. So, endlich mal ein waghalsiger Knaller-Tipp!

Problemkinder unter sich

Gruppe D: Nach der Meuterei von 2010 ist mit Frankreichs Blauen wieder zu rechnen. Die größten Stinkstiefel wurden abgesägt, nach der Auftaktniederlage im ersten Qualifikationsspiel gegen Weißrussland fing sich das Team unter Neu-Trainer Laurent Blanc. Seitdem ist die Equipe ungeschlagen, nebenbei schaltete sie in Testspiele die Fußballnationen Brasilien, England und zuletzt Deutschland aus und ließ dabei hinten wenig anbrennen. Mit Nasri, Benzema und Ribery ist die Offensive hervorragend besetzt, allen drei Spielern ist aber die Schönwetterspielerei gemeinsam. Jeder für sich kann eine Partie im Alleingang entscheiden, im Kollektiv tut sich das Trio aber immer noch schwer. 15 Treffer in zehn Qualifikationspielen (zum Vergleich: Niederlande 37 Tore, Deutschland 34, Spanien 26) stehen nicht gerade für ein Offensivfeuerwerk.

Unter normalen Umständen gehören die Engländer ebenfalls zum Dunstkreis der Titelanwärter – trotz der seit 1966 andauernden Durststrecke. Doch die Mannschaft tritt arg dezimiert zur EM an. Verletzungspech (Gareth Barry, Frank Lampard), Sperren (Stürmer-Star Wayne Rooney kann erst im dritten Gruppenspiel eingreifen) und Rassismusvorwürfe innerhalb des Teams: England geht als krasser Außenseiter an den Start, Spiegel Online verspottete den Kader als „Roys Resterampe“. Die Erwartungshaltung im Mutterland des Fußballs ist gleich null – das heißt aber auch, dass zwangsweise verjüngten „Three Lions“ nur überraschen können.

Selbiges gilt für die Co-Gastgeber aus der Ukraine. Zwar tritt das Team seit der Übernahme von Trainer Oleh Blokhin vor etwas mehr als einem Jahr konstanter auf, Frankreich und England sind Hürden, die erst mal genommen werden müssen. Gegen die Gruppengegner Frankreich und Schweden hagelte es 2011 Niederlagen, die Generalproben gegen Österreich und Türkei gingen ebenfalls in die Hose. Lichtblick ist das 3:3 gegen Deutschland kurz vor Jahresfrist, wobei Jögi Löw damals mit einer ungewohnten Dreierkette in der Abwehr operieren ließ. Anführer des relativ alten Kaders (Durchschnittsalter 27,3 – älter sind nur Italien, Irland und Russland) sind Andriy Schevchenko (35) und Bayern-Akteur Anatoliy Tymoshuk (32), für sie ist es wohl das letzte große Turnier. Ob ihnen der Heimbonus, nach der Kritik, die auf das Gastgeberland einprasselte, Beine macht, ist fraglich. Der Hintermannschaft mangelt es an Stabilität, die ersten drei Torhüter fallen allesamt aus.

Als unberechenbar sind die Schweden in dieser Gruppe einzuschätzen. In der Qualifikation setzte es im Hinspiel eine 4:1-Klatsche gegen die Niederlande, das Rückspiel wurde mit 3:2 gewonnen – da war Oranje freilich schon für die Endrunde qualifiziert. Den Unterschied macht Stürmer-Star Zlatan Ibrahimovic, wobei der im Nationaldress gerne den Larry raushängen lässt. Vier Tore in vier Turnieren seit 2002 sind für einen Stürmer seines Formates zu wenig.

Prognose: Die Marseillaise erklingt auch im Viertelfinale, keine Frage. Das Rennen um Platz zwei wird am zweiten Spieltag im direkten Vergleich zwischen Schweden und England entschieden. Zu diesem Zeitpunkt haben die Schweden den Sieg aus dem Auftaktmatch gegen die Ukraine auf ihrem Konto, England schleppt die Bürde einer verlorenen Partie ins Spiel. Bei den Weltmeisterschaften 2006 und 2002, als die Engländer noch wesentlich stärker eingeschätzt wurden, trotzten die Schweden den Briten jeweils ein Unentschieden ab. Sollte es diesmal zu einer Punkteteilung kommen, liegt der Matchball bei England, das anschließend einen Sieg gegen die Ukraine landet. Aber Augen zu und durch – ich sage Schweden macht’s. Die Ukrainer haben sich mit der Ausrichtung der EM keinen Gefallen getan.

Das soll’s erst mal an Kaffeesatzleserei gewesen sein. Abgerechnet wird nach der Vorrunde, mal sehen, zu welchen leichtsinnigen Vorhersagen ich mich dann hinreißen lasse. Jetzt seid ihr dran! Was sind eure Tipps für die Vorrunde?

Autor:

Patrick Torma aus Essen-Nord

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