Die Jugend von heute

Es war einmal eine brave Bürgerin, die sich in ihrem Leben niemals in ihrem Leben etwas hatte zu Schulden kommen lassen. Ihre Nachbarin war ebenfalls eine stets hilfsbereite, freundliche ältere Dame - unbescholten und rechtschaffen. An einem sonnigen Oktobertag beschlossen die beiden Seniorinnen aus Karnap, mit der Bahn zum Einkaufen in die Essener Innenstadt zu fahren, da es in dem kleinen Stadtteil ja angeblich überhaupt keine schicken Einkaufsmöglichkeiten mehr gäbe, was sie lautstark beim Betreten der U-Bahn verkündeten.
Sie nahmen Platz, lächelten mich freundlich an und ich schaute aus meinem Buch auf und lächelte ebenso zurück. Einige Haltestellen weiter erhoben sich die braven Bürgerinnen, um ihr Kurzstrecken-Tickets zu entwerten, die sie zuvor für mich gut sichtbar in den Händen hielte. Ich stutzte erst jetzt: Sie waren doch bereits eine gute Strecke unterwegs?!

"Ähhh...können sie mir wohl eine Auskunft geben?" fragte ich höflich. "Aber sicher, junge Dame." sagte sie.
Hach, "junge Dame"..., na ja, egal.
Ich blickte ihr freundlich in die Augen und sprach mit fester Stimme: "Sie sind doch in Karnap eingestiegen...Weshalb lösen sie nach etlichen Haltestellen erst eine Kurzstreckenfahrschein, obwohl sie bis in die Innenstadt wollen?"
"Wieso? Es kam doch kein Kontrolleur!" erklärte sie entrüstet, "...und außerdem hat die EVAG genug Geld, da brauchen die da oben nicht noch arme Rentner schröpfen."
"Na ja," sagte ich, "richtig ist das aber nicht. Genaugenommen sind sie schwarz gefahren."
"Ach, wissen se," meinte sie, "wat mischen sie sich da eigentlich ein! Ihr jungen Leute fahrt doch dauernd schwarz. Und die Jugend von heute...die sind doch eh alle kriminell und schlecht erzogen."
"Nun, da kann man geteilter Meinung sein." erwiderte ich. "Jedenfalls ist das nicht richtig, was sie gemacht haben!"

Ein bitterböser Blick von beiden Damen traf mich, es folgte ein Wortschwall, dass die jungen Leute erstmal arbeiten gehen sollen, sowieso alle faul sind und dass früher ja alles besser war, dass sie überhaupt nicht einsehen, den "hohen Herren" ihre Rente in den Hals zu werfen und ich ja nur neidisch wäre, weil ich nicht so einen tollen Trick kennen würde - und so weiter und so fort.

Mittlerweile waren wir der Innenstadt schon ein gutes Stück näher gekommen. Es stiegen Kontrolleure zu.
"Die Fahrausweise bitte!" schallte es durch die Bahn.
Erschrocken sahen mich die beiden mit hochroten Gesichtern an. "Sie petzen jetzt aber doch nicht, oder?"
"Nein," sagte ich grimmig "...schließlich bin ich trotz meiner Jugend ja gut erzogen. Im Gegensatz zu gewissen anderen, älteren Fahrgästen hier... . Sie müssen mir aber versprechen, dass sie das nie, nie wieder tun. Eigentlich müsste ich das jetzt melden."
Schüchtern, kleinlaut und mit gesenktem Kopf hockten die armen Seelen auf ihren Plätzen. "Bitte sagen sie nichts! In Zukunft bezahlen wir immer richtig!" flüsterten sie schuldbewusst.
"Und keine dummen Sprüche mehr über die Jugend!" setzte ich noch einen oben drauf und blickte triumphierend.
"Nein, nein. Sind ja doch nicht alle so." gaben sie zu.

Sie haben es mir nochmal hoch und heilig versprochen,...
... und so fahren glücklich mit korrektem Fahrschein weiter bis an ihr Lebensende.

Autor:

Simone (Mone) Stodiek aus Essen-Nord

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