Rolf Abrahamsohn aus Marl: Ich weiß noch alles...

Zeitzeuge Rolf Abrahamsohn spricht im Gauß-Gymnasium über seine Erfahrungen in der NS-Zeit
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  • hochgeladen von Andreas Jordan

Das gemeinsame Gedenken in Gelsenkirchen begann am Morgen des 27. Januar 2011, dem Internationalen Holocaustgedenktag mit dem Vortrag eines jüdischen Zeitzeugen. Der Holocaust-Überlebende Rolf Abrahamsohn aus Marl sprach im Carl-Friederich-Gauß-Gymnasium vor Schülern über seine Erfahrungen in der der NS-Zeit. Der 85-jährige hat sieben Konzentrationslager überlebt.

Die Aula der Schule ist bis auf den letzten Platz besetzt. Vor 200 Schülern erzählt Rolf Abrahamsohn aus seinem Leben. Man könnte eine Stecknadel fallen hören, es ist mucksmäuschenstill. Gebannt lauschen die Schüler den Worten des Zeitzeugen.

"1938 erlebte ich mit meiner Familie die Pogromnacht in meiner Heimatstadt Marl. Unser Haus an der Loestrasse, in dem sich auch unser Geschäft befand, wurde von den Nazis in Brand gesetzt. Mein Vater wurde brutal von SA-Leuten zusammengeschlagen und im brennenden Geschäft zurückgelassen. In letzter Minute konnten wir ihn retten. Mein Vater konnte mit meinem Bruder Hans kurze Zeit später nach Belgien fliehen, meine Mutter, mein kleiner Bruder Nobert und ich sollten nachkommen. Noch bevor die Familie das Geld für den Fluchthelfer zusammen hatte, wurden die Grenzen dicht gemacht und so mussten wir zurückbleiben.

Zwei Wochen nach der Pogromnacht mussten wir Marl verlassen, die Stadt wollte ja „judenrein“ werden. Unser Haus nahm man uns weg, dort zog die NSDAP ein. Recklinghausen nahm uns dann auf. Nobert starb 1940 nach schwerer Krankheit, kein Krankenhaus hatte ihn, den Juden, aufnehmen wollen, kein Arzt wollte das Kind behandeln. Als wir endlich einen Arzt fanden, war mein kleiner Bruder schon tot."

1942 begann für den damals 16jährigen Rolf Abrahamsohn und seine Mutter in Gelsenkirchen der Weg durch die Vernichtungslager. Abrahamsohn erzählt weiter:

"Am Morgen des 24. Januar um sieben Uhr wurden wir in Recklinghausen lebenden Juden aus den Häusern geholt. Wir standen bis nachmittags um vier auf der Straße, bevor man uns mit Lastwagen nach Gelsenkirchen zur Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz brachte. Am 27. Januar verließ der Deportationszug mit einigen hundert Juden aus Gelsenkirchen, Recklinghausen und weiteren umliegenden Orten die Stadt. Man hatte uns gesagt, dass wir in ein Arbeitslager kämen, damals habe ich das noch geglaubt. Im Zug war es tagsüber sehr heiß und nachts eiskalt - das war unser Glück. So konnten wir wenigstens das gefrorene Wasser von den Fenstern ablecken, damit wir nicht ganz verdursten.

Als wir am 1. Februar in Riga am Bahnhof Skirotava ankamen, wurden wir mit Gebrüll und Schlägen von der SS empfangen. Wir sollten einige Kilometer bis ins Ghetto Riga laufen, den Schwachen bot die SS scheinheilig eine Fahrt auf LKW dorthin an. Was die Menschen, die auf die LKW stiegen, nicht wussten: das war praktisch schon eine erste Selektion. Sie brauchten uns ja als Arbeiter. Wer nicht laufen konnte, konnte nach der Logik der SS auch nicht arbeiten und so fuhren die LKW mit ihrer Menschenfracht direkt zu den Erschießungsstätten im Wald von Bikernieki.

Im Ghetto waren Mutter und ich noch zusammen, bei der Verlegung in das KZ Kaiserwald wurden Männer und Frauen getrennt. Die schwere Arbeit, die wir verrichten mussten, schwächte meine Mutter so sehr, dass sie Anfang 1944 erschossen wurde. Da wollte auch ich nicht mehr Leben, wollte mich in den elektrischen Zaun werfen. Freunde hielten mich zurück. Sie sagten: "Rolf, denke an deinen Vater und deinen Bruder - sie warten auf dich!" Wenn ich zu diesem Zeitpunkt gewusst hätte, dass Vater und mein Bruder schon 1942 in Auschwitz vergast wurden, wäre ich doch in den Draht gegangen."

Als er vom Tod seiner Mutter spricht, versagt dem alten Mann beinahe die Stimme. "Wissen sie, ich habe mit Überlebenden gesprochen, viele können sich nicht mehr an die schrecklichen Details erinnern. Ich dagegen schon. Ich habe nichts vergessen, ich weiß noch alles. Leider." Rolf Abrahamsohn sammelt Kraft, dann spricht er weiter:

"Bald schon wurde das KZ Kaiserwald aufgelöst, und wir wurden in das KZ Stutthof bei Danzig gebracht, dann weiter in das KZ Buchenwald. Von dort kamen wir dann in ein KZ nach Bochum. Dort musste ich für den Bochumer Verein Granaten drehen. Bochum war eines der schlimmsten KZ, die ich erlebt habe. Das war schon 1945.

Von Bochum ging es kurz vor Kriegsende dann zurück nach Buchenwald. Auch hier blieben wir nicht lange, es wurden Transporte zusammengestellt, einer sollte nach Dachau gehen, ein anderer nach Theresienstadt. Mehr zufällig geriet ich in den Transport nach Theresienstadt, und das rettete mir das Leben. Die Waggons, die nach Dachau gehen sollten, wurden einfach auf einem Abstellgleis vergessen. Als Soldaten der US-Armee später die Waggons öffneten, fanden sie darin nur noch Skelette. Die Fahrt nach Theresienstadt war schrecklich, vorne im Waggon alles voller Leichen und hinten saßen wir. Es dauerte nach unserer Ankunft in Theresienstadt noch etwa zwei Wochen, dann wurden wir befreit."

Rolf Abrahamsohn ist sichtlich erschöpft, als er seinen vom Verein Gelsenzentrum initiierten Vortrag unter Applaus beendet. Die Erinnerung zerrt an seinen Kräften. "Ich hätte ihnen noch soviel mehr erzählen können. Aber es ist so anstrengend."

Autor:

Andreas Jordan aus Gelsenkirchen

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