Hitzige Debatte um Parkplätze
Statt überfälliger „Verkehrswende“ in Haltern wieder zurück zur „autogerechten Stadt“?

HALTERN AM SEE. „Autos tun Haltern gut“ – auf dieses „Argument“ seitens der Kritiker lässt sich die aktuell losgetretene Debatte über das neue zukunftsweisende Verkehrskonzept für die Halterner Innenstadt reduzieren. Das anfangs begrüßte und jetzt umstrittene Verkehrskonzept für die Innenstadt sah nach erfolgter Bürgerbeteiligung den Vorrang für Fußgänger und Radfahrer zu Lasten von einigen Parkplätzen z. B. an den mit Autos zugeparkten Straßenrändern vor, insgesamt 140 an der Zahl. Dies stößt jedoch auf den heftigen Widerstand von Händlern, Autofahrern und CDU-Ratsfraktion, mit teilweise hanebüchenen Argumenten. Die überfällige „Verkehrswende“ rückt in der autogerechten Stadt Haltern mit insgesamt ca. 25.000 Autos und besonders hohem SUV-Anteil womöglich in weite Ferne – ein Rückfall in die Vergangenheit?

Bundesweite Zielvorgabe: Halbierung des Autoverkehrs bis 2035

Die bundesweite Zielvorgabe der Halbierung des Autoverkehrs bis 2035 ist jedoch eine Verpflichtung auch für die Städte, ihren wirksamen Beitrag zur überfälligen Verkehrswende vor Ort für den überlebenswichtigen Klimaschutz und die Schadstoffminderung zu leisten. Richtiger Klimaschutz geht nur mit weniger Autos. Doch Haltern mit dem höchsten PKW-Besatz pro 1.000 Einwohner in der gesamten Region (und über dem Bundesdurchschnitt) scheint dazu weiterhin nur halbherzig bereit zu sein. Und das, obwohl zwei Jahre lang die Stadtverwaltung, Planer, Bürger, Schüler, ADFC, Verwaltung und die Ratsfraktionen an dem neuen Verkehrskonzept für die Halterner Innenstadt getüftelt hatten und es danach aussah, als bekäme es nun politisch „grünes Licht“.

Historische Chance für die Verkehrswende in Haltern verpasst?

Doch nach Protesten von Händlern und Autofans rudern die Stadtspitze und Teile der CDU-Fraktion ein ganzes Stück zurück. „Mit ihrem historischen Stimmverhalten im Ausschuss hat die CDU es verpasst, in Zeiten von Klimawandel und Energiekrise ein klares Zeichen zu setzen und der Verkehrswende endlich Vorfahrt zu geben“, so kommentierte die Halterner Zeitung am 19. November nach der Sitzung des Umwelt- und Mobilitätsausschusses des Stadtrates, der zu diesem Zeitpunkt (gegen die 5 stimmberechtigten CDU-Mitglieder) grünes Licht für das zukunftsweisende Verkehrskonzept gegeben hatte. Jetzt aber wird die rückständige Debatte neu aufgerollt: Parkplätze oder Radschutzstreifen?

Mehr Mobiltät mit weniger Autoverkehr – Verletzt Haltern den Rahmenvertrag?

Zur Erinnerung: Die Stadt Haltern hatte in 2020 einen Rahmenvertrag mit dem „Zukunftsnetz Mobilität NRW“ zugunsten einer nachhaltigen Mobilitätswende unterzeichnet, wie sie damals stolz verkündete: Mehr Mobilität soll mit weniger KFZ-Verkehr erreicht werden. Tatsächlich ist jedoch der KFZ-Bestand in Haltern jedes Jahr weiter gestiegen auf inzwischen 650 Autos pro 1.000 Einwohner. 80% aller Fahrten in der Stadt werden mit dem PKW zurückgelegt.

Anspruch und Wirklichkeit klaffen also in Haltern weit auseinander: In der Praxis setzt man in Haltern bei der Mobilität vorrangig auf den motorisierten Individualverkehr mit PKW. Nach der heftigen Gegenwehr von Händlern und aus der eigenen CDU-Ratsfraktion gegen das zukunftsweisende Verkehrskonzept für die Halterner Innenstadt hat der Bürgermeister bereits eingelenkt und beschwichtigt, dass man als Kompromiss vorerst nur Teile des Verkehrskonzeptes umsetzen werde.

Mobilitätsbefragung in Haltern mit ernüchternden Ergebnissen

Dabei hatte die Stadt selber in 2019 eine Mobilitätsbefragung in der Halterner Bürgerschaft durchgeführt mit dem ernüchternden Ergebnis: Der Anteil des Fuß- und Radverkehrs ist nicht gestiegen, wie in anderen Städten, sondern in den letzten 10 Jahren gleich geblieben. (Kein Wunder, da in den letzten zwei Jahrzehnten kein Meter Radweg in der „fahrradfreundlichen Stadt“ Haltern neu gebaut wurde, obwohl bundesweit 40% aller Verkehrstoten Radfahrer sind). Und der ÖPNV-Verkehr ist in Haltern deutlich steigerungsfähig. Deshalb waren sich bislang alle einig in Haltern, dass Fußgänger, Radfahrer und öffentlicher Nahverkehr in Haltern gestärkt werden sollen.

Bei der „Nahverkehrswende“ der Vestischen geht Haltern leer aus

Doch bei der aktuellen „Nahverkehrswende“ der „Vestischen“ als Nahverkehrsunternehmen im Kreis Recklinghausen - mit Investitionen von 6,8 Mio. € jährlich für eine Erweiterung des Bus-Streckennetzes um 15% bis 2030 im gesamten Kreisgebiet - geht die Stadt Haltern nahezu leer aus, weil sie sich auch nicht darum bemüht hat (obwohl der frühere Halterner Bürgermeister und jetzige Landrat dem Aufsichtsrat der Vestischen vorsteht). Die Halterner Bürger dürfen aber über die Kreisumlage die Verbesserungen in den profitierenden Nachbarstädten mitfinanzieren und sollen (insbesondere in den Dörfern) weiterhin auf das Auto angewiesen bleiben.

Nachhaltige Mobilität statt motorisierter Individualverkehr

Wie „nachhaltige Mobilität“ vorbildlich geht, zeigt dagegen der im Oktober vorgestellte „Masterplan“ für das benachbarte Münsterland: Dort wird die Zukunft der öffentlichen Mobilität vorgedacht. In Haltern hatte der beauftragte Verkehrsplaner das Fazit gezogen: Die Stadt ist zu sehr auf den motorisierten Individualverkehr ausgerichtet, so dass 140 Parkplätze demnächst überflüssig sind. „Dies schwäche die Innenstadt und bereite insbesondere den Menschen aus den Ortsteilen Probleme, die aufs Auto angewiesen seien“, argumentierten dagegen die CDU-Vertreter im Klima-Ausschuss des Stadtrates. Warum tritt man dann nicht für die verbesserte ÖPNV-Anbindung der dörflichen Stadtteile ein?

Horror-Szenarien für den drohenden Untergang der Innenstadt?

Der Sprecher der Händler-Initiative „Haltern am See.Tut gut“ argumentierte gegenüber der Halterner Zeitung: Parkplätze in der Innenstadt einzudämmen, sei für Haltern am See nicht förderlich. Als Alternative schlug er die Errichtung eines großen Parkhauses vor. (Mit „viel Holz und Grün“ zur Beruhigung der Umweltschützer…). Er sprach davon, die Visionäre könnten nicht „mit brachialem Veränderungswillen alles auf den Kopf stellen.“

Diese Argumente erinnern an die bundesweiten Debatten vor Jahrzehnten bei der Einrichtung von Fußgängerzonen in den Innenstädten, mit Verbannung der Autos aus den Flaniermeilen. Auch damals argumentierten überall die Händler mit dem Horror-Szenario des „Todesstoßes für die Handelstreibenden“. Doch statt Umsatzrückgang sind überall Umsatzsteigerungen eingetreten, weil die autofreien Einkaufsstraßen bei den Käufern bestens angenommen wurden. Heute möchte sie keiner mehr missen, am wenigsten die profitierenden Händler.

Handelsumsatz durch motorisierten Individualverkehr wird überschätzt

In einem Leserbrief kritisierte ein Bürger die „abenteuerlichen Berechnung“ einer Halterner Unternehmerin in deren vorherigem Leserbrief, die einen „apokalyptischen Kaufkraftverlust in zweistelliger Millionenhöhe“ errechnet habe, wenn das neue Verkehrskonzept umgesetzt würde. Auch seien wenige Hundert Meter Fußweg den Kunden nicht zumutbar. (Am besten mit  dem Auto bis vor die Ladentür?) Dem stellte er eine internationale Nachhaltigkeits-Studie gegenüber, wonach der innerstädtische Umsatz durch den motorisierten Nahverkehr stark überschätzt wird. Im Gegenteil erhöhen sich bei veränderter Mobilität die Attraktivität und die Chancen auf Umsatzsteigerung.

Droht bei weniger Parkplätzen eine „Verödung der Innenstadt“?

Der rückwärts gerichtete Wunsch nach einer „autogerechten Stadt“ bleibt jedoch in Haltern dominant und widersprüchlich, wie die klägliche Debatte um einige Auto-Stellplätze in der Halterner Innenstadt offenbart. Die „Halterner Zeitung“ spricht in einem Kommentar sogar dramatisierend von einer drohenden „Verwaisung der Innenstadt“ und davon, dass der auswärtige Verkehrsplaner ja kein Insider sei. Sein Konzept sei realitätsfremd. Kunden seien „bequem und fahren am liebsten so nah wie möglich an die Fußgängerzone heran“. Da stellt sich doch die Frage: Sollte man nicht der Bequemlichkeit willen die Fußgängerzone wieder für Autos öffnen wie in den 1960-er Jahren? Und wie sähe der geforderte „goldene Mittelweg“ aus, der zwangsläufig zu Lasten der Fußgänger und Radfahrer ausfallen müsste?

Ortsteilbewohner weiterhin auf das Auto angewiesen?

Dabei hatte die gleiche Zeitung bei ihrer eigenen Umfrage unter Neubürgern erfahren: „Es fehlen vernünftige Busverbindungen zwischen den Dörfern“. Parkplätze in der Innenstadt wurden nicht vermisst, wohl aber bessere Radwegeverbindungen. Und beim landesweiten Erreichbarkeits-Ranking zeigten sich die Defizite der unzureichend an den ÖPNV-Verkehr angebundenen Halterner Dörfer. Anstatt die ÖPNV-Anbindung zu verbessern, wird stattdessen für zu erhaltende Parkplätze in der Innenstadt plädiert mit dem Argument, weil ja die Dorfbewohner weiterhin auf das Auto beim Aufsuchen der Innenstadt angewiesen seien.

Mängelanalyse: Halterner Verkehrs-Infrastruktur nicht mehr zeitgemäß

Nach der Klimaausschuss-Sitzung im Halterner Rat zur Beratung des Halterner Verkehrskonzeptes hatte eine andere Kommentatorin der Halterner Zeitung dem neuen Verkehrskonzept für die Halterner Innenstadt begeistert zugestimmt und bezüglich der Mängel festgestellt: „ Gehwege sind sanierungsbedürftig oder zu eng, an Ampeln müssen Fußgänger lange auf die Grünphase warten. Auf den Ringstraßen ist das Radfahren wegen hoher Verkehrsdichte und mangelnder Radfahrstreifen unattraktiv und gefährlich“.

Die Verkehrsplaner hatten festgestellt: „Die Verkehrsinfrastrukturen insbesondere für den Fuß- und Radverkehr sind nicht mehr zeitgemäß und spielen in vielen Bereichen eine untergeordnete Rolle.“ Verbesserungen gehen an manchen Stellen nicht ohne Einschränkungen für die Autofahrer, die bisher absoluten Vorrang genossen, obwohl Haltern seit 2006 Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte und Gemeinden in NRW ist.

Großparkplätze für Touristen und Toleranz für Motorräder ?

Auch für die jährlich 3 Mio. Touristen aus dem Ruhrgebiet, die überwiegend mit dem PKW oder Motorrad nach Haltern strömen und teilweise auch die Innenstadt aufsuchen, bietet man außerhalb der Innenstadt an den touristischen Zielpunkten (Kettler Hof, Silbersee, Prickings Hof, Hof Hagedorn, Seehof etc.) sich immer mehr ausweitende Großparkplätze anstatt z. B. elektrisch betriebene Shuttle-Busse an. Und alle halbherzigen Versuche, den überbordenden und lärmenden Motorradverkehr im Stadtgebiet einzudämmen, scheiterten kläglich. In Google-Bewertungen über die Touristenstadt Haltern wurden u. a. Klagen über „überfüllte Straßen“ vorgebracht - und deshalb von einem Besuch der Stadt abgeraten.

Feinstaubbelastung und Verkehrsunfälle werden ausgeblendet?

Dass die Feinstaubbelastung durch den Autoverkehr in den Innenstädten bundesweit jährlich ca. 30.000 vorzeitige Todesfälle auslöst (fast ebensoviele wie an Corona), wird einfach ausgeblendet? Dass sich in Haltern jährlich ca. 800 Verkehrsunfälle mit 100 Verletzten im Durchschnitt ereignen, wird ebenfalls ausgeblendet, dabei ist unsere Stadt wegen ihres hohen Unfallaufkommens von den KFZ-Versicherungen jetzt in die teurere Regionalklasse eingestuft worden. Die Auto-Lobby prägt die Halterner Kommunalpolitik, denn noch mehr Autos „tun Haltern gut?“

Radfahrer und ÖPNV-Nutzer haben in Haltern keine Lobby?

Die Debatte in der Stadt Haltern um ein nachhaltiges Verkehrs- und Mobilitätskonzept wird sich sicherlich noch weiter zuspitzen und die Kompromisse um einen Interessenausgleich werden kaum zum Vorteil von Fußgängern und Radfahrern ausgehen. Das zeigt sich nicht nur im Zusammenhang mit dem Innenstadt-Konzept, sondern erst recht auf den Halterner Dörfern. Die z. B. dringend benötigten Radwege entlang der Granatstraße oder Merfelder Straße zur Sicherheit der hier besonders gefährdeten Radfahrer sind in der „fahrradfreundlichen Stadt“ auf St. Nimmerleinstag verschoben, obwohl alle von der großzügigen Förderung des Radwegebaus sprechen. Und Busverbindungen zwischen den benachbarten Dörfern sucht man in Haltern – anders als im angrenzenden Münsterland - vergebens. Radfahrer und ÖPNV-Nutzer haben in Haltern trotz aller Lippenbekenntnisse keine Lobby. Das verheißt auch für den Ausgang der Diskussion um das innerstädtische Verkehrskonzept nichts Gutes.

Wilhelm Neurohr, 30. November 2022

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

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