Kleine Anfrage an deine Grundhaltung
Ist Leben wirklich nichts weiter?

Wir haben ein schönes, bunt bedrucktes Geschirrtuch mit dem (in Coronazeiten fast ein wenig trotzig klingenden) Aufdruck:
"Leben ist das mit der Freude und den Farben
nicht das mit dem Ärger und dem Grau"

Vielleicht ist es momentan etwas verwegen, aber ich stelle hier jetzt trotzdem einmal die Frage, die mir jedes Mal durch den Kopf geht, wenn ich dieses Geschirrtuch in die Hand nehme: Kann man das wirklich so sagen?

Wer nun gerade heraus und überzeugt mit "Ja" antwortet, sollte vielleicht nicht weiterlesen, sondern sich den Spruch ausdrucken und an die Wand hängen. Ihm bzw. ihr möchte ich die Freude nicht madig machen. Für alle anderen im Folgenden die Begründung dafür, warum ich mir diese Frage immer wieder stelle.

Der Teil für die Nachdenklichen

Die Aussage dieses Spruches scheint mir kindlich naiv zu sein. Ein wenig entspricht sie der Einstellung, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Oder anders ausgedrückt: Der Spruch beschreibt gewissermaßen den Idealfall, das, was sich insgeheim wohl fast jede(r) von uns für das eigene Leben (und das der Lieben um sich herum) wünscht. Und damit ich hier nicht falsch verstanden werde: Dieser Wunsch ist natürlich völlig in Ordnung und sollte unser Handeln (und Fühlen) so oft wie möglich bestimmen!
Dass ich diese farbenfrohe Aussage trotzdem nicht unwidersprochen stehen lassen mag, erklärt sich eher aus einer Umkehrung der Perspektive, die uns allen seit mindestens zehn Monaten wohl recht vertraut ist: Der Alltag wird grauer, in manchen Familien und an vielen Arbeitsstellen nimmt der Ärger zu, vor allem aber bedrücken uns zunehmend (mehr oder weniger existentielle) Sorgen. Freude? Fehlanzeige. Farben? Bestenfalls noch wie im dichten Nebel. Das soll Leben sein?
Wer an dieser Stelle klar und ohne zu Zögern mit "Nein" antwortet, sollte vielleicht noch etwas weiterlesen. (Die anderen können den folgenden Teil einfach überspringen.)

Der Teil für die Unglücklichen

Vermutlich kennt jede(r) mindestens einen Menschen, der (womöglich auch schon lange vor Corona) die Erfahrung machen musste, dass das Leben nicht immer so bunt und freudig weitergeht, wie es früher einmal gewesen sein mag. Dass die Lebenskurve einen Knick bekommen hat und die Liste der unerfüllten Wünsche auf einmal wieder länger wird statt kürzer. Dass aus unerfüllten Wünschen vielleicht sogar unerfüllbare Wünsche werden, jedenfalls, wenn man die rosarote Brille abgesetzt hat.
Kann man einem solchen Menschen, egal welchen Alters, einfach erklären: Das Leben ist jetzt eigentlich vorbei, du hast nichts Schönes mehr zu erwarten? Schließlich ist jetzt Grau die Grundfarbe deines Daseins, und Grund zum Ärgern wirst du immer haben? Wozu sich noch Mühe geben, wozu noch freundlich sein oder nachsichtig? Ich glaube, solch eine Ansage wäre selbst dann kaum denkbar, wenn man dabei vor dem Spiegel steht, weil man selber dieser Mensch ist, der in einer solchen Situation steckt.
Wer einmal die Erfahrung gemacht hat, dass das Leben nicht immer so bunt und freudig weitergeht, wie man mal meinte (bzw. hoffte), wird früher oder später auch feststellen, dass es erstaunlicherweise trotzdem weitergeht. Zwar nicht mehr so unbeschwert, aber doch irgendwie so, dass man es durchaus als Leben empfinden und - was vielleicht noch wichtiger ist - es auch weiterhin selbst mitgestalten kann. Man begreift, dass auch Ärger ein Teil des Lebens ist ("Wer sich ärgert, hat damit den Beweis, dass er lebt") und dass Grau noch lange nicht gleich Grau ist (sondern vielleicht ein besonders freundliches, helles Schwarz). Und dass das Ganze mit etwas Humor sehr viel besser zu ertragen ist, wie der Volksmund schon lange weiß: Humor ist, wenn man trotzdem lacht! Ich kenne solche Menschen, und ich wünsche jedem und jeder, die bis hierhin weiter gelesen hat, eine solche Bekanntschaft - ob nun im Spiegelbild oder einem anderen Gegenüber.

Ab hier wieder für Alle!

An dieser Stelle möchte ich einfach noch Danke sagen: fürs Mitdenken, Nachfühlen und für jede persönliche und offene Antwort auf meine eingangs gestellte Frage! Alles Gute für die kommende Zeit.

Autor:

Torsten Richter-Arnoldi aus Hattingen

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