"Erzähl (D)eine Geschichte" geht weiter
Endlich Heimat gefunden - in Witten

Am Synagogen-Denkmal sprach ein Enkel des jüdischen Wittener Arztes. | Foto: nima/Wa-Archiv
  • Am Synagogen-Denkmal sprach ein Enkel des jüdischen Wittener Arztes.
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Das Quartiersmanagement Heven-Ost/Crengeldanz in Witten setzt auf die Erinnerungen der Leser: "Vielleicht ist jetzt eine gute Zeit, sich zu erinnern, an das, was uns stärkt und ermutigt." Deshalb setzt es die Aktion „Komm, erzähl‘ uns (D)eine Geschichte!“ nun fort. Hier ist eine davon, erzählt von Kerstin Glathe:

Nach sechs Umzügen in meiner Jugend traf der Song von Alice Merton „I’ve got no roots“ genau mein Gefühl. Ich habe keine Heimat, zumindest keine in meiner Vergangenheit. Mit Anfang 30 kam ich durch reinen Zufall nach Witten. Zehn Jahre später landeten wir mitten in Witten. Aus dem Bauamt besorgten wir uns die alten Pläne aus der Bauzeit des Hauses von vor mehr als hundert Jahren. Mir sprang bei der Durchsicht der zahlreichen Besitzer gleich etwas ins Auge. 1938 gab es einen Verkauf. Für mich ein seltsames Datum, um eine Immobilie zu übergeben. Mein Weg führte mich ins Stadtarchiv. Und damit machte ich meinen ersten Schritt in Richtung Heimat. Das wusste ich damals noch nicht.
Wochenlange Recherchen im Leseraum begleitet von liebevoller Unterstützung und schon vorhandenen Forschungsergebnissen führten mich zu dem jüdischen Arzt Dr. Julius Böheimer, der mit seiner kleinen Familie fast 14 Jahre in Witten gelebt hatte und dann 1938 vertrieben wurde. Meine Gedanken kreisten um diese Familie, die auch einmal so glücklich hier war und die ihre Heimat aufgeben musste. Das Stadtarchiv stellte den Kontakt zu einem der Söhne des bereits verstorbenen Arztes her. Mit einem Kindertransport war er nach London gelangt. Nach anfänglicher Skepsis wurde es ein wunderbares Telefonat und endete mit der Entscheidung, am 27. Januar 2014 eine Gedenktafel am Haus anzubringen. Unsere eigene Verwurzelung hatte damit begonnen.
Das Stadtarchiv hatte nicht nur die Tür zur Vergangenheit aufgestoßen, es stellte zahlreiche Kontakte zu Wittenern her. Nach einem halben Jahr hatte mein Telefonbuch dreihundert neue Einträge. Ich wurde eingeladen, auf der Straße begrüßt, angerufen und um Rat gebeten. Der Enkel des jüdischen Arztes lebte nun in Neuseeland. Er besuchte Witten auf unsere Einladung hin zum allerersten Mal und hielt am 9. November 2018 eine denkwürdige Rede am Synagogendenkmal - teilweise in Maori. Ausflüge auf den Hohenstein begeisterten ihn, denn er erkannte das Restaurant und viele andere prägnante Stellen von den alten Fotos seines Vaters wieder. Als er wieder abreiste, bezeichnete er uns als „seine erweiterte Familie“ und versprach wieder zu kommen. Witten hatte ihn ergriffen, ihn, der auch nie das Gefühl von Heimat kannte, der die Entwurzelung seines Vaters immer tief in sich gespürt und mit in sein Leben genommen hatte. In Witten hatte er das erste Mal das Gefühl, angekommen zu sein. Und so ging es mir auch. Witten war mit ihm auch zu meiner Stadt geworden. (Kerstin Glathe)

Wer seine Erinnerungen teilen möchte, gibt seinen Text an der Sprockhöveler Straße 28 ab – dort hängt am Quartierbüro ein Briefkasten, der regelmäßig geleert wird.

Autor:

Nicole Martin aus Witten

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