Kleve - Emmerich - Goch - Niederrhein: Die Weidezaungeschichte geht in die nächste Runde

Mich gibt es nun schon seit hunderten von Jahren. Über mein Aussehen mache ich mir keine Sorgen. Ich bin stets schlank, echt anspruchslos und besitze eine angenehme Standfestigkeit. In früheren Jahren hatte ich eine schmale Laubkrone und hatte wenige Verästelungen. Ganz besonders stolz war ich darauf, mich selbst ausgesät zu haben.
Doch das führt jetzt auch zu weit! Der Herbst hält langsam Einzug. Die Tage werden spürbar kürzer, dafür die Nächte lang und länger. Für mich ist der Herbst auch die Zeit mal wieder über die vergangenen Monate nachzudenken. Ja, ich sage mal, dass mich auch in den vergangenen Monaten, gerade wegen meiner Schönheit viele bewundert und abgelichtet haben.
Es gab dazu auch viele unaufgeregte Tage. Diese Tage genoss ich besonders. Nicht abgelenkt zu werden, sondern nur mit sich beschäftigt zu sein. Ich hatte Zeit mich mit meiner Umgebung zu befassen, konnte ungestört beobachten und meine Gedanken fließen lassen. Da ich weit und breit der höhste Weidezaunpfahl bin, habe ich das Privileg über alle anderen Weidezaunpfähle hinweg meine Beobachtungen anstellen zu können.
Was ich sicherlich nicht verhindern kann, ist die Tatsache, dass viele Menschenkinder Initialen oder sonst was in meinen Körper schnitzen. Warum tun sie das? Warum nehmen sie sich nicht eine alte Mauer um sich zu verewigen? Warum muss ich für eine Laune herhalten, die mir weh tut?
Der Herbst, ist auch die Zeit der Drachen. Bestimmt wird sich wieder der eine oder andere Drachen an mir verfangen. Bestimmt wird es wieder Menschenkinder geben, die mich in der Hoffnung besuchen ihren Drachen befreien zu können. Manchmal gelingt es. Aber manchmal ist der Versuch vergebens. Dann bleibt der Drachen solange in meinen Fängen (Stacheldraht) gefangen bis der Wind oder ein Unwetter ihn auf nimmer Wiedersehen verschwinden lässt. Im vergangenen Jahr traf es meinen Nachbarn, eine alte Gesell. Gut, er war reich an Jahren und sicherlich wäre er kurz über lang sowieso in sich zusammengesunken. Aber dennoch gibt es die Angst, dass es beim nächsten Mal mich treffen könnte. Vielleicht würde man mich versehentlich austauschen. Dann wäre es zu spät und nicht mehr rückgängig zu machen.
Ja, die Tage werden wirklich kürzer und es bleibt mehr Zeit zum träumen. Ich träume vom nächsten Frühjahr. Die Tage sind dann wieder mit mehr Licht erfüllt und die Luft riecht frisch, würzig und sauber. Menschenkinder werden mich zufällig oder absichtlich besuchen und sich an mir erfreuen. Das, und noch mehr, werde ich träumen. Aber nicht nur träumen, sondern ganz sicher erleben. Ich verspreche es Euch ... und die Weidezaungeschichten werden so schnell nicht sterben!

Autor:

Christian Tiemeßen aus Emmerich am Rhein

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