Der lange Weg zum Frieden

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~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ Heute war sie schon zum siebten Mal hier. Sieben Mal und noch immer weinte sie, wenn sie in diese Atmosphäre ging.
Sich auf den Weg zu machen und hierhin zu fahren war eigentlich nicht schwer. Es war nicht anders, als wenn sie einen Termin bei ihrem Hausarzt wahrnahm oder zu einem Vortrag ging. Sie unterbrach die Tätigkeit zu Hause und nahm das Fahrrad, weil es kein weiter Weg war; nur knapp zwei Kilometer, zu erreichen in nur zehn Minuten strammen Tretens in die Pedale.

Es wurde dann erst immer schlimm, wenn sie hier war. Es wuchs in ihr, wenn sie durch die hohe Tür des Eingangs schritt, den Fahrstuhl nahm und oben in der vierten Ebene des großen Hauses auf den Flur trat.
Es schwoll an, wenn sie nach links den Flur entlang ging, auf dem sie manchmal Menschen traf und manchmal nicht. Es schnürte ihr den Hals zu, wenn sie zaghaft an die Tür neben der Teeküche klopfte und von drinnen unmittelbar das immer gleiche „Ja“ ertönte.
Sie hatte schon auf sie gewartet, wie immer um diese Zeit an jedem zweiten Mittwoch. Wenn sie die Tür auf das „Ja“ hin nur einen Spalt breit öffnete, um kurz hineinzusehen, zu grüßen und dadurch zu zeigen, dass sie da war und es von drinnen klang „Ich komme“, konnte sie nicht mehr verhindern, dass ihre Augen anfingen zu schwimmen.

Sie kam dann immer auch sofort hinaus, wandte sich von dem PC ab, an dem sie wie üblich gesessen hatte, wenn sie kam. Sie trat auf den Flur hinaus, während Anne in eine andere Richtung schaute, und verschloss sorgfältig die Tür ihres Büros mit diesem metallisch klirrenden Schlüsselbund, der auf ein umfangreiches Sortiment an Schlüsseln schließen ließ. In dieser Einrichtung verschlossen sie immer ihre Türen sorgfältig. Hier konnte man nie wissen ...

Sie ging vor ihr her zu diesem anderen Raum, der Anne weniger an das erinnern sollte, was sie so schwer geschädigt hatte. Anne vermied es auf diesem kurzen Weg, sie von hinten anzusehen. Von dieser Frau wollte sie so wenig wie nur möglich wahrnehmen. Es reichte schon, dass sie die Schritte hören musste, die auf dem Linoleumboden kräftig klapperten, weil sie einen festen Auftritt hatte.
Sie vermied ebenso ängstlich wie beharrlich, Kontakt und Nähe herzustellen, sie gab ihr nicht einmal die Hand. Zu tief und fest verankert saßen die Erinnerungen und Verletzungen, die sie erlitten hatte. Vor jetzt bald vier Jahren schon.

Den Weg hierhin zu dieser Frau hatte sie erst jetzt gefunden, weil es absolut undenkbar für sie war, sich dieser Art Behandlung noch einmal auszusetzen, gegen die ihr Körper sich mit allen Mitteln wehrte. Leider aber brauchte sie genau diese Form der Hilfe, weil es keine andere gab. Anne hatte ein Behandlungstrauma, das es ihr unmöglich machte, sich einer vergleichbaren Atmosphäre noch einmal auszusetzen, um die Belastungsstörung zu bewältigen. Es war fast vier Jahre lang ein auswegloser Kampf gewesen. Jetzt aber war sie hier.

Als sie den Besprechungsraum betraten, schossen ihr wie immer die Tränen in die Augen. Sie fing an zu weinen, die Schultern zuckten, das Weinen schüttelte den Körper. Es lief vollkommen automatisch ab, entzog sich der aktiven Steuerung des Willens.
Die Psychologin setzte sich auf einen der vielen Stühle an dem langen Tisch, der in der Mitte stand und sie voneinander trennte. Anne nahm den Stuhl versetzt zu ihr. Heute konnte sie nicht mehr vermeiden, dass die Therapeutin ihr Gesicht von vorne sehen würde. Offensichtlich wollte sie das so, die Blickrichtung lag fest.
Anne schaute dennoch ganz bewusst an ihr vorbei und aus dem Fenster, wohin sie immer blickte, um die Frau nicht ansehen zu müssen. Ein Blickkontakt war nicht mehr möglich, seit sie vor vier Jahren die ausdrucksstarken Augen ihrer damaligen Psychologin als verlogenen Missbrauch zwischenmenschlicher Signale erleben musste. Die elegante, vordergründig warmherzige Frau hatte sie von Anfang an durch ihre Unaufrichtigkeit betrogen, während Anne ihr zutiefst vertraut und an Ehrlichkeit geglaubt hatte. Vertrauen in Behandelnde war seitdem nicht mehr herstellbar.

Sie sprachen lange miteinander, schöpften die regulären 50 Minuten der Sitzung vollständig aus und Anne weinte viel und heftig. Als sie an einen besonders qualvollen Punkt ihrer Erinnerung geriet, der in ein hemmungsloses Schluchzen führte, war die Zeit herum. Sie war nicht mehr zu beruhigen, aber ihr war klar, dass sie gehen musste. Die Zeit war festgelegt.

Sie verabschiedete sich knapp und betrat den Flur, während die Psychologin fragte, ob es ginge, dass sie geht. Anne bestätigte in dem Wissen, dass sie sich auf den nächsten Stuhl im Flur setzen würde, um zu warten, dass sie wirklich würde gehen können, und lief mit schweren Schritten langsam weiter. Hinter sich hörte sie den Schlüsselbund der Psychologin klappern, die wieder ihr Büro aufschloss. Doch sie verharrte, um Anne hinterherzuschauen.
„Geht es wirklich?“ fragte sie noch einmal nach und Anne drehte sich gequält zu ihr herum. Diesmal schaute sie ihr ausnahmsweise in die Augen, als sie ihr knappes „Ja“ aussprach, doch dieser kurze Blick genügte, die Besorgnis in den Augen der Psychologin wahrzunehmen, mit der sie Anne musterte.
In diesem Augenblick zündete der Funke Menschlichkeit, gegen den sie sich die ganze Zeit über so voller Angst gewehrt hatte. Noch immer heftig weinend setzte sie sich auf den Stuhl im Flur, der einzige, der hier herumstand. Sie schämte sich nicht für die Tränen, die sie hier so offen zeigte, auch wenn hier Menschen waren, die sie sahen. Hier weinten viele. Es war ein Ort, an dem man weinen durfte.

Sie weinte, während sie zur Pinnwand schaute, um an irgendeinem Zettel Halt zu finden. Sie weinte, als sie aus dem Fenster sah, um an dem frischen Grün der Parkanlage und der Bäume Halt zu finden. Sie weinte, als sie zur Wand schaute und die großflächigen sonnengelben Kreise registrierte, die sie heute zum ersten Mal zu sehen glaubte. Das Gelb tat gut. An dieser Farbe, die durch den leicht melierten Ton Tiefe und Lebendigkeit verstrahlte, fand sie einen ersten Halt.

Sie weinte immer noch, als sie die Schritte wieder hörte. Die kräftigen bodenständigen Schritte der Psychologin, die nicht in ihrem Raum geblieben war, wie Anne hoffte, näherten sich ihr von hinten.
Anne wurde kleiner, sie wollte nicht, dass diese Frau sie sah; dass sie sich verpflichtet fühlte, zu helfen, wo sie nicht helfen musste, weil die Zeit der Sitzung um war. Die Vorwürfe der anderen, sie wolle ihre Zeit nur überziehen, klangen noch in ihren Ohren und verteilten Ohrfeigen, wie damals.

Es wurde still, die Schritte waren neben ihr verstummt. „Frau Melcher, kann ich Ihnen vielleicht ein Glas Wasser bringen, oder einen Tee?“
Die Stimme der Psychologin klang fürsorglich. Doch Anne dankte und verneinte, ohne aufzusehen. Sie wollte einfach gar nicht da sein. Während ihre Tränen ungehindert weiterliefen, wurden deren Schritte wieder hörbar. Sie behielten die einmal eingeschlagene Richtung bei und entfernten sich zum Hauptflur mit dem Treppenhaus.
Sie hat jetzt sicher eine Gruppensitzung, dachte Anne und war froh, allein zu sein. Sie wollte niemandem zur Last fallen und vor allem nicht den Eindruck auslösen, die Therapeutin solle ihr auch nach der Sitzung helfen. Sie konnte für sich selber sorgen, sie brauchte nur noch etwas Zeit dafür, damit sie die Einrichtung in Ruhe verlassen und nach Hause fahren konnte.

Während sie noch saß und ihre Tränen laufen ließ, die nicht zu stoppen waren, registrierte sie das Kommen und das Gehen der Stations-Patienten auf dem Flur, die mit ihrer Therapieplan-Mappe in der Hand in ihre Zimmer gingen oder sie verließen. Ein junger Mann schaute kurz zu ihr herüber.
„Alles wird gut“, sprach er unaufdringlich im Vorbeigehen. Drei kurze Worte nur, die mehr aussagten, als eine ganze Unterhaltung; die Anne in einen Alltag einbezogen, der im Leben dieser Menschen den Ausnahmezustand beschrieb. Drei Worte, die die Kraft derer verdeutlichten, die noch in der Lage waren, das Leid anderer Menschen wahrzunehmen und darauf einzuwirken, obwohl es ihnen selber ausgesprochen schlecht ging. Sonst wären sie nicht hier.

Wer stationär behandelt wurde, stand seinen Grenzen gegenüber; war an seinen Lebensumständen und an der Gesellschaft derart zerbrochen, dass er schwere Störungen entwickelt hatte und wurde dafür, dass er sie erworben hatte, anschließend noch schlecht gemacht. Diese Menschen aber hatten genau das nicht verdient.

Sie, die an den untragbaren Umständen krank geworden waren, zeigten Verständnis und Mitgefühl für diejenigen, die gleichermaßen an der Gesellschaft krank geworden waren. Es war ein inneres Verstehen, ein Verstehen ohne große Worte.
Diese schwer erkrankten Menschen, die von ihrem Umfeld als schwach bezeichnet wurden, waren weitaus stärker als die, die sich selber vollmundig als stark bezeichneten. Sie waren ohne Zweifel stärker, weil die vordergründig Starken ihre Menschlichkeit und Empathie verloren hatten, ohne es zu spüren.

Das Leben auf dem Flur verlor sich langsam, während Anne noch nicht in der Lage war, sich von dem Stuhl zu lösen. Die Erinnerung an das Belastende war noch zu präsent. Ob die Behandelnde von damals, die eine Auszubildende gewesen war, ohne es zu sagen, wohl ahnte und ermessen konnte, wie sehr sie unter dem Erlebten litt?

Während sie noch ganz in sich versunken mit leerem Blick den Flur entlangstarrte, kamen die Schritte mit dem harten Auftritt wieder, die sie eigentlich nicht hören wollte. Sie wurden lauter, kamen klappernd aus dem Treppenhausbereich zurück und näherten sich Anne. Sich einfach aufzulösen war nicht möglich. Anne schämte sich und war ausgesprochen dankbar, dass sie vorbeigingen, ohne nochmal anzuhalten.
Doch diesmal liefen sie nicht zielgerichtet. Sie gaben keine Ruhe, marschierten hin und her und kamen wieder näher, um dann doch seitlich neben ihr zu stoppen. Eine Hand mit einer Tasse Tee schob sich in ihr eng begrenztes Blickfeld.

„Hier Frau Melcher. Ich habe Ihnen jetzt mal einfach eine Tasse Tee geholt“, sprach die Stimme der Psychologin mit wohlwollender Entschiedenheit. „Die ist ohne Zucker und ohne Milch. Wenn Sie das mögen, steht es da auf diesem Wagen. Stellen Sie die Tasse nachher einfach auf dem Wagen ab.“
Zum wiederholten Mal zündete an diesem Morgen ein Funke Menschlichkeit, ein ganz kleines Schubsen in eine ganz bestimmte Richtung.
Die beharrliche Ausdauer der Behandelnden, die sich nicht um sie kümmern müsste, da sie nicht Patientin dieser Klinik war, rührte Anne tief. Sie nahm die Tasse mit dem Tee entgegen, bedankte sich und trank die warme Flüssigkeit in kleinen Schlucken ganz entgegen der Gewohnheit auch völlig ohne Zucker, während die Psychotherapeutin endgültig in ihr Büro zurückging.

Anne betrachtete erneut das warm melierte Gelb der großen Kreise. Sie nahm es ganz tief in sich auf und stellte fest, dass sie unglaublich viel auf einmal spürte, als sie da saß, weil sie immer noch nicht so weit war, dass sie gehen konnte. Vor allem aber registrierte sie etwas ganz Erstaunliches:

Obwohl sie derart heftig weinte, wie schon seit langem nicht mehr, fühlte sie sich gar nicht mal so schlecht. Sie saß auf dem Flur einer Klinik für seelische Gesundheit, deren Patientin sie nicht war und die sie eigentlich auch nie mehr werden wollte, weil sie wegen der Verletzungen durch diese ambulante Psychotherapie auch hier so schlimme Erfahrungen gesammelt hatte, dass sie als Folge der Überflutung mit den Reizen der psychiatrischen Behandlung schließlich weggelaufen war.
Und trotzdem fühlte sie sich an diesem Ort bei den sonnengelben Kreisen mit einem Mal aufgehoben und geborgen. Für den Augenblick gehörte sie hierhin und es war einfach gut. Sie lief zumindest aus der Atmosphäre einer Klinik nicht mehr weg, sie schöpfte wieder Kraft aus ihr.

Dass sie traumatisiert war, stand inzwischen außer Frage. Das hatte die Behandelnde ihr auch bestätigt. Aber heute hatte sich etwas verändert. Sie trug etwas Positives in sich, das spürte sie, als sie nach Hause fuhr.
War es möglich, eine Frau zu lieben? Diese Frau, deren Funke Menschlichkeit in dem Moment gezündet hatte, als sie ihr in die Augen schaute und die Besorgnis sah? Diese Frau, die ihr die Tasse mit den Tee in liebevoller Aufdringlichkeit dann doch einfach gebracht hatte, ohne noch einmal zu fragen, ob Anne das so wollte?
Ja, man konnte das, dessen war sich Anne sicher. Es war möglich, eine Frau zu lieben:
für ihre Güte;
für ihre Bereitschaft, in einem Fall zu helfen, der aussichtslos sein konnte;
für ihre unendliche Geduld mit einem Menschen, der alle Stacheln ausfuhr gegen die, die helfen wollten;
für ihre Zuwendung und ihre Warmherzigkeit, mit der sie denen begegnete, deren Seele im Leben aus Gründen so sehr krank geworden war, die nur sie selber zu empfinden wussten,
und für ihren Glauben an die Kraft des kranken Menschen, mit dem sie ihn in seinen Fähigkeiten und in seinem Glauben an sich selber stärkte.
Sie war ihr dankbar und diese Dankbarkeit begann zu wurzeln, wie eine kleine, unglaublich zarte Pflanze.

Zum ersten Mal in diesen fast vier Jahren spürte Anne in sich einen tiefen Frieden, der den ganzen Tag lang anhielt. Vielleicht war es ja doch eines Tages möglich, das Trauma hinter sich zu lassen. Vielleicht war es wieder möglich, Vertrauen in Menschen aufzubauen, die sie so schwer verletzt hatten: Vertrauen in die Psychologen und die Psychotherapeuten.
Und vielleicht war es auch wieder möglich, Blatt für Blatt das zu entfalten, was sie angstvoll und zutiefst verletzt ganz fest zerknüllt und tief in sich verschlossen hatte: die Zuneigung und die Freude an anderen Menschen.

"Wer Menschen gewinnen will, muß sein Herz zum Pfand einsetzen."
(ADOLF KOLPING)

Anm.: Dieser Beitrag ist der Psychotherapeutin einer psychiatrischen Klinik gewidmet, die ohne Zögern bereit war, sich ambulanter Gespräche mit einer Patientin anzunehmen, die durch eine Behandlung in einer Ausbildungsstätte, durch therapeutische Verfehlungen und durch Verstöße gegen geltende Bestimmungen eine schwerwiegende und nachhaltige psychische Störung erlitten hat. Der Name der Patientin ist frei gewählt.

Vertrauen und Geborgenheit
entstehen durch Menschen,
die mit uns fühlen
und uns verstehen.

© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen Mai 2012

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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