Der Kunstrasen

Das bin ich!

Ich bin rund 100 Meter lang und etwas über 50 Meter breit. Mein wohltuendes Grün wird nur durch ein paar weiße Linien, Kreise und Punkte unterbrochen. Seit zwei Jahren liege ich jetzt hier auf dem Sportplatz an der Lippstädter Straße. Es hat mehr als ein Jahr gedauert, bis ich in meiner ganzen Schönheit zur Geltung kommen konnte. Ganz am Anfang war ich noch in einzelnen Stücken aufgerollt und in stickige Plastikfolie eingesperrt. Es war eine schier endlos scheinende Reise in einem dunklen und ebenso stickigen Lastwagen. Das monotone Motorengebrumm im Laderaum wurde nur durch bange Fragen unterbrochen: Wo geht es wohl hin? Was wird meine Aufgabe sein? Werde ich womöglich auf einer Terrasse enden, auf der ich im Sommer glühend heiße Fettspritzer ertragen muss, die von einem Grill auf mich herabtropfen? Oder werde ich auf einem Dachgarten liegen, von dem ich das ganze Jahr eine schöne Aussicht habe? Vielleicht endet meine Reise aber auch auf einem Spielplatz, auf dem tobende Kinder mein grünes Herz mit ihrem Lachen erfreuen werden. Das wäre schön!
Fragen über Fragen. Dann erstarb plötzlich das Motorengeräusch. Die Reise schien zu Ende. Angespannt bis in den letzten Halm wagte ich kaum zu atmen.

Ich hörte Stimmen, dumpf und kaum zu verstehen und endlich durchflutete Licht den Laderaum, die stickige Luft wich einer sanften Frühlingsbrise die durch die geöffneten Türen herein wehte. Kräftige Hände packten mich, Stück für Stück wurde ich aus dem Wagen geladen. Durch ein kleines Loch in meiner Plastikhülle versuchte ich einen kurzen Blick zu erhaschen, aber alles was ich sehen konnte, war der LKW. Als ich dann komplett ausgeladen war und ich hörte, wie der Motor des Wagen ansprang, begann mein Herz zu rasen. Langsam glitt der LKW an mir vorbei und gab den Blick frei. Ich sah eine riesige Fläche, die ich wohl auszufüllen hatte. Trostlos und grau sah es aus, aber rund herum Bäume, deren frisches Grün im Sonnenlicht strahlte. Ein warmes Gefühl durchströmte mich. Dem Kunstrasengott die Dank! Eine Terrasse ist das sicher nicht.

Dann hörte ich die Stimme eines Jungen. Er mochte vielleicht zehn, elf Jahre alt sein und er klang aufgeregt: „Ist das der Kunstrasen?“ „Ja Maxi“, antwortete einer der Männer, „ jetzt dauert es nicht mehr lange. Wenn die neue Saison beginnt, ist die Zeit vorbei, wo ihr euch auf Asche beim Fußball die Knie aufgeschlagen habt.“ Ein Sportplatz, schoss es mir durch die Fasern. Ich atmete auf. Da hätte es mich deutlich schlimmer treffen können. Ich werde Jubelschreie hören, Erfolge und Niederlagen erleben. Die Noppen und Stollen der Schuhe werden mir ein kribbeliges Gefühl geben, ganz so als würde ich massiert. Ich werde Kinder erleben, die sozusagen auf mir aufwachsen. Ich werde spüren, wie sie wachsen und schwerer werden, bis sie irgendwann erwachsen sind. Ich werde auch erleben, wie sie am Ende ihres Fußballerlebens ihr letztes Spiel bestreiten und fortan ihre Stimmen vom Spielfeldrand hören, wie sie ihre eigenen Kinder anfeuern.

In den folgenden Tagen und Wochen war es dann so weit. Stück für Stück wurde ich ausgepackt, ausgerollt und es war ein großartiges Gefühl wieder zu einem großen, ganzen und stolzen Rasen zusammenzuwachsen. Als es schließlich vollbracht war, wurde mir eine große Ehre zu Teil: Mit einem großen Fest wurde ich begrüßt. Es gab Musik, der Duft von Gegrilltem erfüllte die Luft und ich hörte die Worte: „Es hat lange gedauert, aber nun ist es soweit: Ich erkläre die Kunstrasenanlage der ÖSG Viktoria 08 Dortmund für eröffnet!“ Ich spürte, wie einige Männer mich betraten und sich zu einer Gruppe aufstellten. Das Klicken von Fotoapparaten erklang. 'Ui', dachte ich, 'morgen werde ich in der Zeitung zu sehen sein.' So viel Aufmerksamkeit hatte ich wahrlich nicht erwartet.

Nun liege ich hier schon seit zwei Jahren und die Stimme des kleinen Jungen, die ich als erstes hörte, höre ich noch heute fast jeden Tag. Auch seine Füße spüre ich. Manchmal spielt er mit seinen Freunden auf mir und läuft barfuß – ganz so, als wolle er mir nicht weh tun, oder als wolle er mich besser spüren können. Kann es ein Kunstrasen besser haben? Nein, ich bin ein echter Glücksrasen!

Autor:

Volker Lenk aus Dortmund-City

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