Alleine im Schwarm

Alleine im Schwarm hängt die Einsamkeit des Kranichs von seiner konditionierten Erwartung ab. So ist er Jahr für Jahr darauf eingestellt, dass er auf dem Flug nach Süden sein Ziel nicht verfehlt. Dazu muß er die Höhe und Geschwindigkeit des Schwarms genau einhalten. Zurückbleiben bedeutet seinen Untergang. Der Kranich braucht seinen Schwarm um zu überleben. Ihm bleibt ein Trost: Er muß nicht jedes Jahr schneller und höher fliegen. Insofern bleiben seine Ansprüche an die Zukunft immer dieselben. Allerdings fällt seine Zukunft mit seiner Vergangenheit zusammen. Hier gibt es keinen Fortschritt, genau wie beim Satz des Pythagoras.

Da ist der Mensch anders veranlagt. Seine Erwartung an die Zukunft entfernt sich ständig von der Vergangenheit, denn die Zukunft soll immer besser sein. Er erwartet ständig, dass er an Höhe und Geschwindigkeit gewinnt. Das führt dazu, dass heute seine Kindheit schon einer vergangenen Welt angehört. So zählt heute nicht mehr die Erfahrung der Alten, sondern nur das Neue und Unbekannte ist gefragt. Alles wird auf die Zukunft ausgerichtet. Die Wissenschaft setzt auf Innovation, die Rentenversicherung auf die spätere Rente. Die Fantasy und Science-Fiction Literatur auf eine spekulative Zukunft. Nur Originalität ist gefragt. In der Kunst ebenso wie in der Politik und zwar ohne Pause.

Und das Medium Internet, Smart-Phone und TV? Hier wird gesurft, getwittert, gesimst, ferngesehen was das Zeug hält, so dass die Angst umgeht, die Nation verblöde. Unentwegt bewegt sich ein Schwarm von Daten unterschiedlicher Qualität mit jedem Flügelschlag in die Weite des Internets oder sonstiger Datenautobahnen. Wohin? Im Gegensatz zum Schwarm der Kraniche in eine Zukunft ohne erkennbares Ziel. Nur neu, besser und schneller muß es sein. Es scheint so, als ob neugierige Abenteurer eine Kultur der Ziellosen prägen wollen. Wer nicht aufpasst bleibt zurück, droht seinen Schwarm zu verlieren, um zum Schluss in die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft zu versinken. So scheint es!
Und dennoch! Wer hier Entschleunigung verlangt, der sei daran erinnert, dass er, zum Beispiel, nicht auf der einen Seite modernste Lasertechnik im Einsatz bei einer Netzhautkoagulation verlangen kann und auf der anderen Seite die Gemütlichkeit einer Postkutschenfahrt genießen möchte. Beides zeitgleich gibt es nicht. Hier ist Zukunft gefragt. Hier will der Mensch auch noch den letzten Rest über sich erfahren. Schließlich ist er mehr, als er über sich weiß.

So gilt es den langen Blick in die Vergangenheit, in das Alte, das angeblich Schönere, kritisch zu betrachten. Dort, wo jeder Weg bekannt, jeder Laut vertraut, wo nur Bekanntes gesucht wird, wo Beschleunigung und größere Höhe keine Erwartung mehr ist. Wo auf der Zeitachse die lange schon gelebte Vergangenheit und kurze Zukunft zusammenlaufen. Dort, wo es keinen Fortschritt mehr gibt, wo der Kranich Zuhause ist. Dort, wo es schweres Gepäck zu tragen gilt.

Da hat es die noch suchende, erfahrungslose Jugend leichter. Sie hat in ihrem Gepäck nur wenig Gegenwart und wenig Erinnerung an Erlebtes, aber viel Zukunft. Mit diesem leichten Gepäck lässt sich scheinbar besser reisen, noch weit weg von der Heimat des Kranichs. Wir sollten uns von dieser Reise berichten lassen.

Autor:

Heinz Pelzer aus Essen-Ruhr

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