In der Talsohle der deutschen Lernlandschaft

Was wären die Neujahrsvorsätze ohne eine Bestandsaufnahme des vergangenen Jahrs? Ziemlich wirkungslos! Der Stadtspiegel hat aus diesem Grund den Deutschen Lernatlas 2011 zum Titelthema der ersten Ausgabe des neuen Jahres gemacht. Vielleicht ist für die Entscheidungsträger in Bildungsfragen eine bessere Platzierung im Jahr 2012 ein möglicher guter Vorsatz? Foto: Gerd Kaemper
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Ein neues Jahr hat gerade begonnen. Es ist wieder Zeit für gute Vorsätze. Gelsenkirchen belegte im letzten Jahr Rang 55 von 56 im Deutschen Lernatlas 2011 der Bertelsmann-Stiftung. Vielleicht ist dieses Ergebnis ein Anlass für den Vorsatz, im nächsten Jahr noch etwas mehr für die Lernsituation in Gelsenkirchen zu tun.

Dunkle Flecken auf der Deutschlandkarte zeigen die bildungsfreudlichen Wohnorte. Je heller es auf der Karte wird, desto bedenklicher ist die Situation vor Ort. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung kartographiert die Deutsche Lernlandschaft. Die Karte der Stiftung soll keine Umzugsströme von den hellen Flächen zu den fettgefärbten Orten bewirken. Vielmehr ist die Studie aus Fragen entstanden wie: „Leben die Menschen in einer Umgebung, die sie anregt, neue Erfahrungen zu machen und sich vielseitig weiterzubilden? Haben sie einen Arbeitsplatz, der ihr Können abwechslungsreich herausfordert? Gibt es Freizeitangebote, die sie dabei fördern, ihre Talente zu entdecken und kreativ zu werden?“ Die Beantwortung dieser Fragen soll die Entscheidungsträger vor Ort über die Stärken und Schwächen der eigenen Stadt (Kreis) im Vergleich zu anderen Städten (Kreisen) derselben Größe in ganz Deutschland informieren.

Verschiedene Lernformen
Der Deutsche Lernatlas ist keine Bewertung von Schulen und Lehrplänen, er hebt auf das lebenslange Lernen ab. Dabei zählen die Schulbildung ebenso zum Ergebnis wie der Theaterbesuch, die VHS-Kurse, die Büchermenge, die gelesen wird, aber auch das bürgerschaftliche Engagement – wie etwa bei der freiwillligen Feuerwehr oder in der Senioren- und Jugendarbeit. Diese außerschulischen Tätigkeiten, ob privat oder öffentlich, sind die Katalysatoren für ein lebenslanges Lernen. Vier Kategorien dienen dem Vergleich der Städte: Erstens: „Schulisches Lernen“ analysiert, wie Menschen in Bildungsinstitutionen lernen. Zweitens: „Berufliches Lernen“ zeichnet ab, wie Menschen in ihrem Beruf lernen. Die Kategorie „Soziales Lernen“ vergleicht die Möglichkeiten, im und für das soziale Miteinander zu lernen. Und „Persönliches Lernen“ bildet die Fähigkeiten ab, wie Menschen sich persönlich weiterentwickeln und entfalten können. Gelsenkirchen fällt dabei in die Vergleichsgruppe „Kreisfreie kleine und mittlere Großstädte“ und wird mit Städten (bzw. Landkreisen) wie Bonn, Bochum, Kassel, Bremerhaven, Cottbus, Kiel, Erfurt, Darmstadt, Heidelberg, Mainz und Ulm (insgesamt 56 Städte) verglichen. Innerhalb der Gruppe belegt Gelsenkirchen den 55. Rang – das ist der vorletzte Platz.

Unterdurchschnittlich im „Schulischen Lernen“
Besonders schlecht schneidet Gelsenkirchen im „Schulischen Lernen“ab mit 27,01 Punkten im Gegensatz zur Vergleichsgruppe, die im Durchschnitt 41,91 Punkte erreicht. Der deutsche Durchschnitt liegt bei 46,33 Punkten. Auch im „Beruflichen Lernen“ ist Gelsenkirchen (23,25) weit unter den Durschnitten der Vergleichsgruppe (36,01) und Deutschland (39,81). Dabei ist besonders auffällig, dass in der jungen Bevölkerung (25-34 Jahre) nur 10,7 Prozent einen Hochschulabschluss erreichen, der bundesweite Durchschnitt liegt hier bei 22,95 Prozent. Allerdings liegt Gelsenkirchen beim Angebot der Studienplätze mit 0,80 Plätzen pro Studienberechtigtem nur knapp unter dem Bundesdurchschnitt von 0,86 und über dem NRW-Durchschnitt (0,74).

Ohne Aussicht auf Ausbildungsplatz
Die Prozentzahl junger Menschen ohne Aussicht auf einen Ausbildungsplatz liegt für Gelsenkirchen bei 4,46 Prozent – fast dreimal so hoch wie der Bundesdurchschnitt (1,53 Prozent). Auch die Dauer der Arbeitslosigkeit vor Beginn einer beruflichen Weiterbildung ist vergleichsweise hoch. So kommt die Vergleichsgruppe auf 197,27 Tage, bundesweit sind es 153,64 Tage und in Gelsenkirchen sogar 254,4 Tage. Das sind also 100 Tage mehr als in anderen Städten.

Politische Reaktionen auf den Atlas
„Der Lernatlas 2011 führt uns einmal mehr vor Augen, dass die bildungspolitischen Strategien in Gelsenkirchen offensichtlich verfehlt sind“, so Sascha Kurth, Vorsitzender der Jungen Union Gelsenkirchen. Auch Christoph Klug, Sprecher der FDP–Ratsfraktion Gelsenkirchen, findet das Ergebnis schockierend. Aus seiner Sicht müsse der Wegzug der Hochqualifizierten gestoppt werden. „Ein Warnsignal ist insbesondere die Zahl der Kinder, die ohne Hauptschulabschluss die Schule verlassen. Dies führt auch dazu, dass die Quote der jungen Menschen ohne Aussicht auf einen Ausbildungsplatz dreimal so hoch ist wie im Bundesdurchschnitt“, so Klug.

Keine Schwarzmalerei
Allerdings sollte man nicht alles schwarzmalen. Denn in den Bereichen „Soziales Lernen“ und „Persönliches Lernen“ liegt Gelsenkirchen auf den Rängen 47 und 46. Beim Engagement für Kinder und Jugendliche sind die Gelsenkirchener Bürger (10,10 %) engagierter als ihre Mitbürger in der Vergleichsgruppe (8,66 %) und in ganz Deutschland (9,45 %). Ebenso beim Engagement für Ältere liegt Gelsenkirchen (4,00 %) vor NRW (2,93 %) und Deutschland (3,76 %).
Auch was Theater- und Konzertbesuche betrifft, ist Gelsenkirchen (0,73) nur knapp unter dem Bundesdurchschnitt (0,74) und über dem Wert in der Vergleichsgruppe (0,68) zu finden. Die Nutzung der Bibliotheken ist in Gelsenkirchen bei 8,00 Entleihern pro 100 Einwohner leicht über dem Bundesdurchschnitt (7,98) und damit auf Platz 31 in der Vergleichsgruppe (9,71).

Wozu dient der Lernatlas
Aber was bedeuten diese Zahlen? „Der Deutsche Lernatlas ermöglicht – wie aus einer Vogelperspektive – einen ganzheitlichen Blick auf die Lernbedingungen einer Region“, geben die Macher des Atlas‘ auf der Webseite www.deutscher-lernatlas.de bekannt. „So wie ein Thermometer das Fieber anzeigt, aber nicht die gründliche Untersuchung durch den Arzt oder gar Medikamente ersetzt, so geben die Ergebnisse des Deutschen Lernatlas zunächst nur einen Hinweis darauf, für welche Arten des Lernens die Kommune ihren Bürgern gute Möglichkeiten und Bedingungen bietet.“ Der Deutsche Lernatlas will die Forderung nach Transparenz für die Bildungslandschaft flächendeckend umsetzen. Dabei sollen keine Städte oder Landstriche stigmatisiert werden. Der Vergleich dient eher der Realisierung der eigenen Schwächen und Stärken.

Europaweit durchschnittlich
Wenn Gelsenkirchen nun schlecht abgeschnitten hat, dann ist das für die Entscheidungsträger der Stadt ein Signal, noch mehr für das lebenslange Lernen in Gelsenkirchen zu tun. Es gibt viele Projekte, die von Vereinen, Initiativen und der Politik angestoßen wurden und heute schon nachhaltig das Lernen und Leben fördern. Diese Maßnahmen sollen durch den Lernatlas nicht entmutigt werden. Im Gegenteil zeigt der Atlas, wie wichtig diese Engagements sind. Ein weiterer Trost ist mit Sicherheit auch die Tatsache, dass alle Städte und Kreise in Deutschland in Zukunft etwas für die Bildung tun müssen. Denn in der Vorjahresstudie mit dem Namen ELLI wurde das lebenslange Lernen innerhalb Europas verglichen. Hier schnitt die Bundesrepublik Deutschland nur durchschnittlich ab – Platz 10 von 23. Es gibt also keinen Grund für diejenigen Städte und Kreise, die im Deutschen Lernatlas gut abgeschnitten haben, sich auf den Lorbeeren auszuruhen.

Autor:

Harald Gerhäußer aus Bochum

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