Hilfe, mein Kind ist anderer Meinung als ich

Jörg Winterscheid mit seinem Elterntrainer. Foto: Pielorz
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„Hilfe, mein Kind ist anderer Meinung als ich!“ Unter diesem Motto stand der Elterntreff im Oktober 2018. Referent war der Heilpädagoge Jörg Winterscheid, der seit 26 Jahren mit Eltern, Kindern und verschiedenen Einrichtungen zusammenarbeitet. Sein Motto: Wir können den Wind nicht ändern, aber versuchen, die Segel richtig zu setzen. Voraussetzung dafür ist allerdings das Wissen um den richtigen Kurs.

„In meinem täglichen Kontakt mit Kindern, Jugendlichen, Eltern, Schulen und Kindergärten erfahre ich oft Rat- und Hilflosigkeit. Ich erlebe verunsicherte Erwachsene, die zwischen der pädagogischen Autorität der 1950er Jahre und den antiautoritären Ansätzen der 1970/80er Jahre pendeln. So wie früher wollen sie nicht erziehen, so wie sie es sich heute vorstellen, scheint es auch nicht wirklich zu klappen“, erzählt Jörg Winterscheid. Aber: „Noch nie hat es so viele Hilfen für Eltern gegeben wie heute. Aber noch nie war auch die Unsicherheit so groß. Viele Eltern treffen keine Entscheidungen mehr und halten Konflikte nicht mehr aus, weil sie ja nach dem totalen Glücksmoment streben. Die Beziehung soll ja immer harmonisch sein und das geht eben nicht. Wenn man sich wirklich unsicher ist und Hilfe braucht – was macht ein Kapitän, wenn er Hilfe braucht? Er holt sich einen Lotsen an Bord. Und Lotsen, das sind die zahlreichen Hilfen, die Eltern heute in Anspruch nehmen können. Doch diese Hilfen haben aus der gesellschaftlichen Sicht oft ein negatives Image. Wenn Sie einen Hund oder eine Katze haben und damit einen Kurs besuchen oder zum Hunde- oder Katzenflüsterer gehen, dann finden Tierfreunde das toll und Sie ernten dafür Zustimmung. Erzählen Sie anderen Eltern, Sie holen sich Rat für die Erziehung des Kindes, dann werden Sie in Deutschland oft negativ bewertet. Warum eigentlich?“

Anerkennung und Respekt müssen sich Eltern verdienen

Der Ausgangspunkt in der Erziehung – und nicht nur dort – sei denkbar einfach. „Wir wollen alle Harmonie und Wärme. Was passiert aber, wenn wir die Hände aneinander reiben? Es entsteht Reibung, die wiederum Wärme erzeugt. Das Bild ist übertragbar. Aus Reibung und Konflikten kann Liebe und Wärme entstehen. „Sind wir uns alle einig, so brauchen wir keine Erziehung. Dann läuft es von selbst. Erziehung beginnt dort, wo Bedürfniskonflikte entstehen. Dann muss der Erwachsene in Millisekunden entscheiden, was er tun möchte. Erziehung, so Winterscheid, ist eine dynamische Beziehung, die aus Durchsetzen, Verhandeln und Eigenverantwortung besteht. Erziehung beruht auf den beiden Säulen Autorität (nicht zu verwechseln mit autoritär!) und Partnerschaft. Die Eigenverantwortung kommt erst zu einem späteren Zeitpunkt als dritte Säule dazu. Die Grundlagen der Erziehung sind Liebe, gegenseitige Anerkennung und Respekt! Jeder Mensch, so Winterscheid, sei vom Grundsatz egoman und stelle seine eigenen Bedürfnisse voran. „Wird ein Kind geboren, kommuniziert es seine Bedürfnisse durch Schreien – egal wann und wo und solange, bis es bekommt, was es braucht. Wird es größer, muss es lernen, auf andere Art und Weise zu kommunizieren und das ist nicht so einfach.“
Winterscheid bringt ein Beispiel mit einem kleinen Kind. „Ein Kind will ein Eis essen, die Mutter will, dass es Kartoffeln isst. Was geschieht? Viele Eltern sagen, sie sprechen dann mit dem Kind, aber es soll am Ende trotzdem die Kartoffeln essen. Sie reagieren erstaunt, wenn ich ihnen sage, dass ich an Stelle des Kindes die Kartoffeln nicht essen würde. Die meisten Eltern versuchen, dem Kind zu erklären, dass es doch vernünftig ist, die Kartoffeln zu essen. Aber bei einem kleinen Kind ist der Appell an den Verstand viel zu früh. Hinzu kommt, dass ein erzielter Kompromiss immer auf einen Verzicht hinausläuft, mit dem beide Seiten leben müssen. Denn jeder will ja seine Ziele durchsetzen. In diesem Fall vielleicht weniger Kartoffeln und ein kleines Eis. Doch die Eltern sollen nun nicht glauben, dass ihr Kind begeistert sein wird: es wollte ja gar keine Kartoffeln essen. Ein erzielter Kompromiss ist immer ein Abstrich von den Wünschen und Forderungen und löst selten Begeisterung aus.“
Dabei soll niemand annehmen, die Konflikte zwischen Eltern und Kinder entstehen deshalb, weil die Kinder irgendwie böse seien. „Jeder möchte seine Interessen durchsetzen und nutzt dazu den Spielraum, den die anderen Menschen ihnen zugestehen. Wenn ich als Elternteil mit meinem Kind nicht einer Meinung bin, dann ist der entstehende Konflikt völlig normaler Alltag – wie es Bedürfniskonflikte grundsätzlich sind! Ich muss mir dann überlegen, ob ich mein Ziel mit Autorität durchsetzen möchte oder mit dem Kind eine Diskussion auf partnerschaftlicher Ebene beginne, die zu einem Kompromiss führt: Du ziehst eine Jacke an, aber welche, kannst Du dir aussuchen.“
Je jünger die Kinder sind, desto weniger haben sie ein Interesse an Kompromissen. Müssen Eltern eine Entscheidung treffen – beispielsweise die, ob sie mit Autorität anordnen oder lieber partnerschaftlich diskutieren wollen – wissen sie nicht, ob die Entscheidung richtig sein wird. Zu berücksichtigen ist auch das Alter des Kindes, weil man mit kleinen Kindern eben auf kognitiver Ebene nicht alles diskutieren kann.

Wie diskutiert man einen Konflikt richtig?

Doch wie diskutiert man einen Konflikt richtig? Hier lehnt sich Jörg Winterscheid an die „Familienkonferenz“ nach Thomas Gordon an. Das Familiengespräch findet mit drei Regeln statt: Ausreden lassen, nicht Auslachen und alle Meinungen sind okay.
Vor diesen Regeln setzt man sich zusammen.
1. Jeder Beteiligte/Familienmitglied formuliert seine Bedürfnisse. Sie werden nicht kommentiert.
2. Jeder Beteiligte/Familienmitglied stellt seine Lösung vor. Sie wird nicht kommentiert.
3. Jeder Beteiligte/Familienmitglied bewertet alle vorgestellten Lösungen. Die Diskussion läuft solange, bis eine Lösung gefunden ist, mit der alle einverstanden sind.
4. Lösung wählen
5. Die Lösung wird geplant: wer macht wann was?
5a. Jeder Beteiligte/Familienmitglied bespricht was geschieht, wenn sich jemand nicht an die
Lösung hält
6. Auswertung: Nach der stattgefundenen Lösung setzen sich alle zusammen und besprechen, wie es funktioniert hat.
Diesen Prozess kann man auch schriftlich festhalten und ihn von allen Beteiligten unterschreiben lassen.
„Vergessen Sie nie: Erziehung ist Beziehung. Zweifel sind völlig normal – wer wollte dauerhaft mit jemandem leben, der nie an seiner Entscheidung zweifelt.“

Kontakt: Jörg Winterscheid, Heilpädagogische Ambulanz, Zum Ludwigstal 27, 45527 Hattingen; Telefon 02324/38806; E-Mail: info@winterscheid. com; www.winterscheid.com

Autor:

Dr. Anja Pielorz aus Hattingen

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