"Andersrum" - Leseprobe

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Aus der Novelle "Andersrum." Einblick in die Welt der kleinen Lisa. Der Ausschnitt beginnt an der Stelle, wo die Achtjährige Duh aus ihrem Tagebuch vorliest.

... Lisa holt ein Büchlein aus der mitgebrachten Schultasche heraus. Es ist halb so groß wie ein Lehrbuch und hat einen wunderschön verzierten Deckel, mit einem Foto von Lisa in der Mitte.
Sie schlägt das Tagebuch auf, zögert jedoch und schaut unsicher zu Duh hinüber. Er versteht, ohne dass sie etwas sagt. „Du musst mir nicht alles vorlesen, mein Schatz. Wenn du Gedanken aufgeschrieben hast, die nur für dich bestimmt sind, die kein anderer wissen soll, übergehe sie einfach; lies nur das, was du mir mitteilen möchtest.“
Lisa nickt erleichtert. Dann holt sie tief Luft und beginnt zu lesen.

„24. August 1960, Mittwoch.
Heute ist ein ganz, ganz besonderer Tag. Ich fand einen Stein, aber einen anderen Stein. Ich denke, dass Duh ihn mir geschickt hat. Er hat mir einmal gesagt, dass Freunde seelenverwandt sind und fühlen können, wenn es einem schlecht geht. Ich weiß, Duh hat es gefühlt. Er wollte, dass ich diesen Stein finde. Damit ich ihn so rufen kann. Jetzt werde ich ihn jeden Tag sehen und ihm alles erzählen. Er versteht mich und erklärt mir Dinge, die ich nicht weiß. Das ist gut. Weil es mir dann besser geht. Ich habe Duh so sehr vermisst. So sehr ...“
Bei den letzten Sätzen zittert Lisas Stimme, dann hält sie inne, schaut ihren großen Freund an und sagt schüchtern: „Das ist zwar für mich bestimmt, Duh, aber ich wollte es dir vorlesen, weil ich möchte, dass du es weißt.“
Duh antwortet nicht. Lisa wartet einen Moment und fragt dann ängstlich: „Habe ich was Falsches gesagt?“
„Nein, Liebes, Du hast alles richtig und sehr schön gesagt und geschrieben … Nur … weißt du … ich musste mich ein bisschen sammeln ... innerlich.“
Lisa versteht nicht, was Duh meint, und sieht ihn ratlos an.
Seine Erklärung folgt rasch: "Auch wenn ich schon erwachsen bin, so berühren mich manche Dinge doch sehr ... Ich möchte dir gern helfen und ich hoffe, dass ich das kann.“
Duhs Stimme klingt irgendwie anders, und Lisa denkt, dass auch er einen Kloß im Hals hat.
„Soll ich weiter lesen?“, fragt sie vorsichtig, und Duh nickt zustimmend.

„Duh hat mir eine Aufgabe gegeben. Ich soll über Menschen aus dem Dorf nachdenken, ob es jemand gibt, der böse zu mir ist. Ich habe sie mir alle vorgestellt. Manche sind komisch, manche mag ich nicht, manche sind ganz lieb. Aber keiner tut mir etwas, auch Onkel Johann nicht. Onkel Johann ist unser Nachbar. Vor ihm habe ich ein bisschen Angst, weil er seine Jungs schlägt. Sie sind wilde Kerle und stellen immer etwas an. Sie tun mir leid. Wenn ich sie schreien und weinen höre, dann weiß ich, dass ihr Papa sie wieder verprügelt. Mich hat er aber nie geschlagen. Ich bin ja auch ein Mädchen. Keiner hat mich geschlagen, denke ich. Oder habe ich es doch vergessen, und es ist diese Erinnerung, die wieder zurückkommen will?“

Lisa verstummt, schaut Duh an. Er ist ganz Ohr. So sagt Lisas Papa immer, wenn er jemandem gut zuhören will – ich bin ganz Ohr. Lisa atmet tief durch und liest weiter.

„Dann habe ich doch an einen Menschen gedacht, den ich gar nicht mag. Warum ich ihn nicht mag, weiß ich aber nicht genau. Auch er tut mir nichts, trotzdem will ich ihn nicht sehen, ich will nicht, dass er in meiner Nähe ist. Ob ich mich vor ihm fürchte? Irgendwie schon. Er macht mich unruhig, und ich fühle mich so ganz anders. Wenn er mich anguckt oder anspricht, will ich sofort weglaufen. Ich weiß, dass es so nicht richtig ist, weil er mein Bruder ist, und Brüder und Schwestern haben sich doch lieb. Er liebt mich ja auch, aber warum liebe ich ihn nicht? Ich weiß nicht, ob ich das für Duh aufschreiben soll, aber ich habe es trotzdem aufgeschrieben.“

Lisa schließt ihr Tagebuch und sieht Duh fragend an. Sie erschrickt, als sie seine Haltung wahrnimmt. Duh hat sich nach vorne gebeugt, sein Körper ist angespannt, er strahlt Bedrohung aus. Wie eine Faust, denkt Lisa, wie eine Faust, die bereit ist, zuzuschlagen. Sie wundert sich selbst, dass ihr so etwas in den Sinn kommt.
Im gleichen Moment merkt Duh, dass er dem Mädchen Angst macht, und sein Körper entspannt sich wieder.
„Alles gut“, sagt er, „alles gut, ich habe dir nur sehr aufmerksam zugehört. Erzähl mir mehr über deinen Bruder. Wie alt ist er? Wo wohnt er?“ Duhs Stimme klingt scharf und Lisa schaut ihn wieder ängstlich an.
„Ich weiß nicht, wie alt Erwin ist, aber er ist schon sehr erwachsen und wohnt nicht mehr im Dorf, sondern in der Stadt. Nach Hause kommt er nur manchmal, am Wochenende.“
„Du sagst, er hat dich lieb ... Woher weißt du das? Sagt er es dir?“, will Duh wissen.
Lisa überlegt ein wenig, dann spricht sie mit eigenartiger leiser Stimme: „Er sagt, ich bin ein so hübsches, liebes Mädchen. Dann streichelt er mir immer über meine Haare, aber das will ich nicht. Ich mag es nicht, wenn er mich berührt, ich gehe dann ganz schnell weg.“
„Hast du ihm das schon mal gesagt, dass du es nicht magst?“ Duh wirkt angespannt und man sieht ihm die Ungeduld an, mit der er auf die Beantwortung der Frage wartet.
„Ja, habe ich ... Aber er lacht nur und sagt, er dürfe das, weil ich seine Schwester bin, und weil er mich liebt. Einmal hat er gesagt, er kann alles mit mir machen, was er will, und dass ich ihm gehorchen muss, weil ich noch klein bin.“ Lisa zögert und fügt hinzu: „Ich finde aber, das ist falsch. Oder?“ Lisa schaut Duh unsicher an.
Mit rauer Stimme antwortet der Freund: „Ja, Lisa, dein Gefühl ist vollkommen richtig – man darf mit einem Kind nicht machen, was man will. Das dürfen Eltern nicht und Brüder auch nicht. Du bist ein selbständig denkender Mensch, ein kleiner Mensch, aber deine Gefühle sind genauso stark, wie die eines Erwachsenen.“
Das Mädchen bebt vor Spannung und saugt Duhs Worte förmlich in sich auf. Ihre Seele beginnt zu verstehen, dass Dinge geschehen sind, die nicht hätten passieren dürfen. Ihr Herz pocht und sie hört zu, was der Mann noch zu sagen hat.
„Du bist sehr verletzlich“, fährt er fort. „Mehr noch, als ein Erwachsener. Weil du dich nicht wehren kannst, weil du noch nicht alles verstehst, weil du nicht immer weißt, was gut und was schlecht ist. Die Erwachsenen sind da, um es dir beizubringen, nicht, um dir wehzutun – auch dann nicht, wenn du Fehler machst.“
„Dann darf Onkel Johann seine Buben nicht schlagen? Auch wenn sie Unsinn machen?“
„Nein. Und es ist sehr traurig, dass er das tut.“

Am Spätnachmittag sitzt Lisa wieder auf der Bank im Schatten des alten Ahornbaumes und denkt über Duhs Worte nach. Im tiefsten Inneren weiß sie, dass er recht hat. Es fühlt sich richtig an, wenn sie überlegt, dass auch sie Wünsche und Bedürfnisse hat, auf die ihre Eltern Rücksicht nehmen müssen. Und wenn sie bestimmte Berührungen nicht mag, dann sollten sie ihre Abneigung respektieren. Auch Erwin.
So in Gedanken versunken, achtet sie gar nicht auf ihre Umgebung und es entgeht ihrer Aufmerksamkeit, dass ein Mann die Straße entlang und immer näher kommt. Erst als das Mädchen seine Stimme hört, schreckt es hoch. Als ob Lisas letzter Gedanke sich plötzlich materialisiert hätte, steht er vor ihr. Ihr Bruder. Stumm, zutiefst erschrocken blickt sie in sein grinsendes Gesicht.
„Lieschen, wie schön, dass du hier auf mich wartest! Hast du mich vermisst?“ Er streckt die Hand aus, will ihr über die Haare streichen. Blitzschnell beugt sie sich zur Seite. Eine noch nie gekannte Wut kocht in ihr auf. „Fass mich nicht an!“
„Sieh an, sieh an … Sie wehrt sich! Früher war das aber ganz anders. Hast du es vergessen?“ Seine Augen sind plötzlich kalt und stechend. Lisa fröstelt und schaut mit starkem Unbehagen dem großen Bruder hinterher, der mit einer Reisetasche in der Hand pfeifend den Hof überquert.
„Was meint er? Was habe ich vergessen?“, fragt sie sich, und irgendwo – tief in ihr – regt sich etwas. Etwas, das sie an ihre Albträume erinnert.

Beim Abendessen verhält sich Lisa so still wie möglich. Sie sitzt an der Ecke des Tisches, den Kopf gesenkt, um den Blicken ihres Bruders nicht ständig ausweichen zu müssen, der übertrieben laut mit den anderen Geschwistern scherzt. Am liebsten würde sie sich unsichtbar machen. Obwohl sie Hunger hat, kann sie nicht essen – ihre Kehle fühlt sich wie zugeschnürt an.
Auch einschlafen kann sie später nicht. Damit hatte sie schon immer Probleme, aber diesmal ist ihre Unruhe besonders stark; sie lauscht in die Dunkelheit hinein und zuckt bei jedem Geräusch zusammen, obwohl sie keine Ahnung hat, was sie so ängstigt. Ist es das, was sich in ihrem Inneren herumwälzt oder irgendetwas da draußen? Sie denkt an die Worte ihres Bruders und versucht dahinter zu kommen, was sie bedeuten, aber das Nachdenken verstört sie nur noch mehr ...

Foto: Illustration von Jutta E. Schröder
Autor:

Rosa Ananitschev aus Hemer

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